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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Pessimisten. Tschausch Nurhan Elleon hatte die Bank bestiegen. Sein grauer drahtiger Schnurrbart zitterte. Er bleckte das rotgeäderte Weiße seiner Augen und rasselte mit seiner ausgeschrieenen Feldwebelstimme: Wer die Hoffnung ausspreche, daß der Feind nicht mehr angreifen werde, sei ein verkappter Feigling und Verräter. Er, Nurhan, wünsche mit Ungeduld einen neuen Angriff. Besser heute als morgen! Was wäre das sonst für ein Leben auf dem Damlajik? Nur hungern und versumpfen!? Dazu habe er gar keine Lust! Das Leben mache ihm überhaupt kein Vergnügen mehr. Er sei fünfzig Jahre alt und habe genug. Wer anders denke als er, sei ein dummer Teufel.
    Es fanden sich aber dieser dummen Teufel einige, die gegen Nurhans Wahnsinn heftig zu streiten begannen. Der alte Baumeister Tomasian, der seiner Sinne auch nicht mehr ganz mächtig war, wurde dunkelrot vor Zorn. Nurhan sei ein Gotteslästerer, schrie er. Man feiere hier die Taufe seines Enkelkindes, und er wolle solche Reden nicht dulden. Als Großvater bete er zum Heiland, daß sein Enkelsohn, wenn er auch jetzt noch ein elendes Wurm und zum Auslöschen sei, dereinst schöne und friedliche Tage unten in Yoghonoluk oder anderswo auf dieser Welt erleben möge. Der Heiland werde dies nach seinem eigenen Willen lenken und nicht nach dem Willen eines blutrünstigen Onbaschi. Er aber glaube fest, daß die Türken sehr bald Vernunft annehmen würden. Damit war das Stichwort für den Muchtar Kebussjan gegeben. Auch er stellte sich taumelnd auf die Bank, wackelte mit der Glatze und sah äußerst vergnügt alle und keinen an:
    »Verhandeln muß man«, zischte er geheimnisvoll pfiffig, »seit zwölf Jahren bin ich Muchtar von Yoghonoluk … Ich verhandle mit den Türken, mit Kaimakam und Müdir … Der Kaimakam hat mich stets geehrt … Pünktlich habe ich den Bedel der Gemeinde abgeliefert … Und ich wurde in seine Kanzlei geführt, denn der Kaimakam und der Mutessarif und der Wali und der Wesir und der Sultan, sie wissen alle, daß ich der Thomas Kebussjan bin … Wenn ich mit ihnen verhandle, wird mir nichts geschehen, denn ich bin ein großer Steuerzahler … Ihr aber seid kleine Steuerzahler und könnt euch nicht mit mir vergleichen …«
    Die kleineren Steuerzahler, die in ihrer Ehre gekränkten Dorfschulzen der anderen Ortschaften, rissen Kebussjan von seiner Rednerbühne herab. Tschausch Nurhan schrie, daß er unnütze Proviantvertilger nicht mehr dulden werde und daß nun jedermann demnächst unter seine Fuchtel komme, möge er auch siebzig Jahre alt sein oder mehr. Gelächter. Der besoffene Streit drohte in unangenehme Formen auszuarten. Doch glücklicherweise hatte Gabriel Bagradian den weiteren Ausschank seines Weines verboten, ehe er mit Awakian, der ihm eine heimliche Meldung überbrachte, schnell verschwunden war. Der vornehme Tisch wurde immer leerer. Ter Haigasun hatte das Gelage schon nach einer knappen Stunde verlassen. Aram Tomasian war kurz nach ihm in das Zelt zu den Frauen gegangen. Als an dem langen Tisch der Streit ausfallender zu werden versprach, hatte sich Sarkis Kilikian mit seiner Feldflasche hinübergesetzt und beobachtete aus seinen stumpfen Augen die alten Kampfhähne, ohne irgend eine Belustigung zu verraten. Noch saßen Gonzague und Juliette still nebeneinander, Lehrer Hrand Oskanian hockte nach wie vor zu Füßen der Frau. Er verschmähte es, einen der freigewordenen Plätze einzunehmen. Plötzlich aber sprang der Schweiger auf, sich auf sein Gewehr stützend, als sei er von einer Schlange gebissen worden. Er betrachtete Julietten einige Sekunden lang entsetzt, dann drehte er sich um und ging steif davon. Oskanian hatte nur wenig getrunken und doch hielt er, schon nach wenigen Schritten, das, was er zu sehen geglaubt hatte, für ein Wahngebilde des Weines. Es war ganz und gar unmöglich und nicht denkbar, daß eine blonde und weiße Göttin ihr Knie leidenschaftlich an das Knie eines abenteuernden Subjektes drängt, von dessen Herkunft kein Mensch etwas weiß. Trotz dieser unbezweifelbaren Erkenntnis spürte aber Oskanian den Herzstich noch, als er bereits über den Altarplatz ging. Juliette aber, die plötzlich unruhig geworden war, stand auf und verabschiedete sich, um Howsannah Tomasian zu besuchen, die sie sträflicherweise die ganze Zeit vernachlässigt hatte.
    Zuletzt saßen nur noch Apotheker Krikor und Gonzague Maris einander allein gegenüber. Gonzague betrachtete seinen ehemaligen Hauswirt mit unverhohlen erschrockener

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