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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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angeordnet, ohne der unmittelbaren Gefahr noch gewiß zu sein. Merkwürdigerweise wurde es erst nach Sonnenuntergang klar, daß die Türken in der Orontesebene und im armenischen Tale eine unabschätzbar große Truppenmenge zusammengezogen hatten. Die reguläre Streitkraft und die Freischaren schienen so zahlreich zu sein, daß sie in den Ortschaften kein Quartier mehr fanden und unter freiem Himmel nächtigen mußten. Der weite Halbkreis von Lagerfeuern reichte fast vom Ruinensturz Seleucias bis zum äußersten armenischen Dorf, bis zu Kebussije im Norden. Nach und nach rückten die Späherpatrouillen ein und meldeten staunenswerte Dinge. Die türkischen Soldaten wären wie mit einem Schlage aus dem Boden gefahren. Doch nicht nur die Soldaten, die Saptiehs und Tschettehs, alle Moslems der ganzen Landschaft seien plötzlich mit Mausergewehren und Bajonetten bewaffnet, und die Offiziere bildeten aus ihnen Abteilungen. Die Zahl der Waffenträger lasse sich gar nicht berechnen. Phantastische Zahlen machten die Runde. Wenn aber Gabriel Bagradian den viele Meilen großen Halbkreis der Lagerfeuer in Betracht zog, so mochten ihm diese Zahlen gar nicht phantastisch erscheinen. Zwei Dinge waren sicher. Der türkische Befehlshaber hatte erstens Mannschaften genug, um den Damlajik von der Südbastion bis zum Nordsattel zu belagern und zu stürmen. Und zweitens mußte er sich so übermächtig fühlen, daß er die Taktik des gedeckten Aufmarsches und plötzlichen Überfalles verschmähte. Diese Offenheit, die auf die Armenier niederschmetternd wirken sollte und wirkte, wies auf einen bestimmten »Fall« hin, den Bagradian unter dem Kennwort »Generalangriff« schon vorgesehen, ausgearbeitet und als Manöver geübt hatte. Gabriel war weit ruhiger als vor den beiden anderen Kämpfen, obgleich die Aussichten diesmal für das Bergvolk hoffnungslos standen. Nach dem ersten Alarm jagte er die Ordonnanzen in die einzelnen Stellungen, um alle Führer und die freien Zehnerschaften bei sich auf seinem Standort zu versammeln. Indessen hatten sich auch die Gewählten des Führerrats eingefunden. Von ihren erschrockenen Zügen war die Wirrnis des Weines völlig verschwunden. Gabriel Bagradian übernahm, wie es verfassungsmäßig bestimmt war, für die Stunden des Kampfes auch den obersten Befehl über das Lager. Er verfügte, daß alles frisch geschlagene Fleisch noch im Laufe der Nacht unverzüglich zubereitet werde. Zwei Stunden vor Tagesanbruch müsse der reichlichste Proviant in die Stellungen geschafft werden. Es solle ferner auch alles, was sich im Lager noch an Wein und Branntwein vorfinde, an die Kämpfer verteilt werden. Er selbst stellte alle Zehnliterkrüge des Dreizeltplatzes bis auf einen einzigen den Verteidigern zu Verfügung. (Diese Gabe war später mitschuldig an dem Märchen vom unerschöpflichen Horte der Bagradians.) Als die Gruppenführer, die Zehnerschaften, die Leute der Reserve und die Jugendkohorte angetreten waren, hielt Gabriel Bagradian eine kurze Ansprache. Er belehrte die Leute über den Kampf, der zu erwarten war, und verschwieg ihnen die Wahrheit nicht. Wortwörtlich sagte er:
    »Aller menschlichen Voraussicht nach haben wir nur zwischen zwei Toden zu wählen, zwischen dem leichten und anständigen des Gefechtes und dem niedrigen und furchtbaren des Massakers. Wenn wir uns dies völlig klar machen, wenn wir mit verächtlichster Entschlossenheit den ersten, den anständigen Tod wählen, dann geschieht vielleicht das Wunder, und wir werden nicht sterben müssen. Aber nur dann, Brüder!«
    Nun wurden die neuen Einteilungen für den »Generalangriff« getroffen. Tschausch Nurhan Elleon erhielt das Kommando über den Nordsattel. Ein weiterer Befehlswechsel erfolgte, indem Gabriel Bagradian dem Russen Kilikian, wie er es vor einigen Stunden schon angedeutet hatte, den wichtigen Abschnitt oberhalb der Steineichenschlucht übertrug. Zwei gänzlich neue Kampfgruppen wurden gebildet, eine fliegende Garde und ein Komitatschi-Bann. Für letzteren sonderten Nurhan und Bagradian, eingedenk des Bandenkrieges auf dem Balkan, aus den Zehnerschaften etwa hundert der entschlossensten Männer, der besten Schützen, der gewandtesten Kletterer aus. Sie hatten sich über die ganze Talseite des Damlajik zu verteilen und längs der Aufstiege in Baumkronen, hinter Gestrüpp und Felsblöcken, in Gruben und Falten den Hinterhalt zu beziehen. Sie sollten die türkischen Angriffskolonnen zuerst ruhig vorüberlassen, dann aber diese vom

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