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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Aufmerksamkeit. Die Veränderung, die sich mit diesem seit den letzten Wochen zugetragen hatte, war kaum glaublich. Aus dem mittelgroßen, sehnigen Mann schien ein magerer verwachsener Zwerg geworden zu sein, dessen Wasserkopf an einem dürren Hals-Stengel haltlos schwankte. Die Schultern waren hinaufgezogen und vorgedreht, die Gelenke der Finger durch große Knoten und Wülste entstellt. Nur die Mandarinenmaske hatte sich nicht ganz und gar verwandelt, wenn man von der graubraunen Verfärbung der Haut absieht. Doch in das überlegen gleichmütige Spektrum seines Gesichtsausdrucks war eine neue Lichtlinie eingeschaltet, ein Lächeln jenseitiger Verschlagenheit. Krikor trank fleißig seinen Wein aus einer Teetasse. Dabei zitterte aber seine kranke Hand so stark, daß er jedesmal ein unfreiwilliges Trankopfer darbringen mußte.
    »Sie sollten nicht so viel trinken, Apotheker Krikor«, mahnte Maris.
    Krikor schüttelte seinen schweren Kopf, der in der letzten Zeit so merkwürdig gewachsen zu sein schien:
    »Ich esse überhaupt nichts mehr … Das Trinken aber ist geistiger Dienst, so lehrt der persische Philosoph Ferhad el Katib.«
    »Sie müßten sich schonen und ins Bett legen …«
    »Ich fange erst an, mich gesund zu fühlen«, sagte der Kranke mit einer Paradoxie, die nicht nur um ihrer selbst willen erklang.
    Der Streitlärm, das aufhetzende Gelächter und Gespotte am langen Tisch wurde, obgleich der Wein längst versiegt war, immer bösartiger. Es hatten sich einige Ungeladene, junge Leute zumeist, eingefunden und verschärften die Gegensätze. Die Sonne ging unter. Es war spät geworden. Die angeheiterte Taufgesellschaft warf eine wildbewegte Schattenschlacht auf den Erdboden. Unzweifelhaft lag eine Rauferei in der Luft, als der lange Trommelwirbel von der Stadtmulde herüberrollte. Ein plötzliches Stillschweigen! »Die Münadirs«, sagte jemand und ein anderer schrie: »Alarm!« Die jungen und die alten Männer erwachten jäh aus ihrer streitsüchtigen Weltvergessenheit. In langen Sprüngen stürzte alles davon und galoppierte in die verschiedenen Einteilungen. Auch Pastor Tomasian sah man in wilder Hast gegen die Stadtmulde rennen. Binnen wenigen Minuten lag der Platz des Gelages leer. »Alarm«, wiederholte Gonzague nachdenklich, und in dem ruhigen Braun seiner Augen glitzerten goldene Pünktchen. Der Angriff der Türken kam seinen Plänen zuvor. Diesmal würde es wahrscheinlich nicht gut ausgehen. Sollte man nicht diese Nacht benützen? Und Juliette? Apotheker Krikor konnte sich nicht allein vom Tisch erheben. Gonzague half ihm auf. Es zeigte sich, daß dem Alten auch die kranken Beine nicht gehorchten. Er wäre zusammengestürzt, wenn ihn Maris nicht vorsichtig geführt und nach Hause gebracht hätte. Krikor schien aber seinen gebrechlichen Körperzustand als einen gleichgültigen Betriebsunfall der Natur nicht weiter zu beachten, obgleich die Heimreise unendlich viel Zeit in Anspruch nahm.
    »Alarm«, fragte er leichthin, als habe er dieser Kleinigkeit nicht genug Aufmerken geschenkt und sie wieder vergessen. »Alarm«, belehrte ihn Gonzague nachdrücklich, »und einer, mit dem nicht zu spaßen sein wird!«
    Der Apotheker blieb stehen. Alle fünf Schritte schon verlor er den Atem:
    »Was geht mich der Alarm an«, keuchte er. »Gehöre ich denn zu ihnen? Nein, ich gehöre nicht zu ihnen, ich gehöre zu mir.«
    Und er beschrieb mit zitternder Hand einen Kreis um sich selbst, als deute er damit die Größe und Geschlossenheit seiner Ich-Welt an:
    »Wenn ich nicht an das Böse glaube, so gibt es kein Böses in der Welt … Wenn ich nicht an den Tod glaube, so gibt es keinen Tod in der Welt … Mögen sie mich ermorden, ich werde es nicht einmal merken … Wer diesen Punkt erreicht, der baut die Welt aus dem Geiste neu!«
    Er versuchte die Hände über sein Haupt zu heben. Aber es gelang ihm nicht. Gonzague, dessen Wesensart danach strebte, ein Unheil lieber vorher zu bemerken, als es nachher nicht zu bemerken, hatte von diesen großen Worten nichts verstanden. Um jedoch dem Apotheker eine Freude zu machen, fragte er höflich:
    »Welchen alten Philosophen haben Sie jetzt zitiert?«
    Die Mandarinenmaske sah gleichmütig in die beginnende Dämmerung. Das weiße Bocksbärtchen wippte. Geringschätzig verkündete die hohe und hohle Stimme:
    »Dies hat ein Philisoph gesagt, den niemand jemals außer mir zitiert hat und zitieren wird. Krikor von Yoghonoluk.«
     
    Gabriel Bagradian hatte den großen Alarm

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