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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nahm er sie an der Hand und ging mit ihr ein Stückchen weit fort, bis sie allein waren. Sie setzten sich unter einen Arbutusstrauch, der über und über voll roter Beeren stand, die im leblosen Mondlicht die stumpfe Farbe von Siegellacktropfen hatten. Iskuhis Worte kamen gepreßt und befangen:
    »Ich möchte dich nur fragen, ob es dich nicht stören wird, wenn ich mich morgen in deiner Nähe aufhalte …«
    »Nichts auf der Welt tut mir wohler als deine Nähe, Iskuhi …«
    Er unterbrach sich, dachte nach und preßte ihre Hand gegen seine Wange:
    »Und doch, es würde mich nicht nur stören, sondern peinigen, dich in Gefahr zu wissen.«
    »Die Gefahr ist überall, wo wir sind, Gabriel. Ein paar Stunden früher oder später, das ist doch gleichgültig …«
    »Hast du nicht gerade morgen die Pflicht, bei Howsannah und dem Kindchen auszuharren? Wer kann sagen, was bis zum nächsten Abend hier geschehen sein wird?«
    Ihr schwacher Körper streckte sich voll entschlossener Festigkeit:
    »Wer kann sagen, was bis zum nächsten Abend hier geschehen sein wird? Gerade deshalb erkenne ich keine andere Pflicht mehr an, als … Howsannah und das Kind haben damit nichts zu tun. Sie sind mir gleichgültig.«
    Gabriel beugte sich dicht über Iskuhi, um in ihre Augen einzudringen, die ihm groß entgegenschmolzen. Ein seltsamer Gedanke durchzitterte ihn. Vielleicht war das, was ihn jetzt zu ihr hinzog, keine gewöhnliche Liebe, nicht das, was ihn noch immer mit Juliette verband, sondern weit mehr und auch weniger als Liebe. Er fühlte all seine Sinnen- und Seelenkräfte gesteigert und glückselig gemacht, ohne daß ihn Begehren ablenkte. Vielleicht war es die unbekannte Liebe der Blutverwandschaft, die ihn durch Iskuhis Blick wie ein mystisches Quellwasser erquickte, nicht der Wunsch, eins zu werden in der Zukunft, sondern die Gewißheit, in der Vergangenheit eins gewesen zu sein. Er lächelte in ihre Augen hinein:
    »Ich habe gar keine Todesgefühle, Iskuhi! Es ist verrückt, aber ich bringe es nicht im entferntesten fertig, mir vorzustellen, daß ich morgen nicht mehr leben könnte. Ich halte das für kein schlechtes Vorzeichen. Und du, was meinst du?«
    »Der Tod muß doch kommen, Gabriel. Es gibt doch gar keinen anderen Ausweg für uns …«
    Er hörte den Doppelklang aus ihren Worten nicht heraus. Eine unglaublich sichere Fröhlichkeit entfaltete sich in ihm:
    »Man soll nicht zu weit denken, Iskuhi! Ich denke an nichts als an den morgigen Tag. Mit dem Abend beschäftige ich mich nicht. Weißt du, daß ich mich eigentlich auf morgen freue?«
    Iskuhi erhob sich, um nach Hause zu gehen:
    »Ich wollte von dir nur ein Versprechen haben, Gabriel. Etwas, das auf der Hand liegt. Wenn es soweit sein sollte und keine Hoffnung mehr besteht, bitte, dann erschieße mich und dich! Es ist die beste Lösung. Ich kann ohne dich nicht leben. Doch ich möchte auch nicht, daß du ohne mich lebst, keinen Augenblick! Darf ich mich also in deiner Nähe aufhalten morgen?«
    Nein! Sie mußte ihm das Wort geben, daß sie sich während des Tages nicht aus dem Zelt fortrühren werde. Er aber gab ihr das Wort, daß er sie, wenn alles verloren sei, zu sich rufen oder holen werde, um mit ihr zu sterben. Er lächelte bei diesem Versprechen, denn in seiner Seele glaubte tatsächlich nicht die leiseste Regung an das Ende. Deshalb auch fürchtete er für Juliette und Stephan nichts. Als er aber die Arbeit bei den Geschützen wieder aufnahm, wunderte er sich selbst über seinen Lebensglauben, den die furchtbarste Wirklichkeit von allen Seiten im drohenden Halbkreis höhnisch widerlegte.
     
    Der Kaimakam, der Jüs-Baschi aus Antakje, der rothaarige Müdir, der Bataillonskommandant der aus Aleppo gesandten vier Kompagnien und zwei andere Offiziere hielten nach Sonnenuntergang im Selamlik der Villa Bagradian Kriegsrat. Das Empfangszimmer erstrahlte im vollen Kerzenlicht wie bei Juliettens Notabeln-Abenden. Die Offiziersdiener räumten die Reste der Mahlzeit ab, welche die Herren in diesem Salon eingenommen hatten. Durch die offenen Fenster drangen Trompeten-Signale und die Feierabendgeräusche einer rastenden und menagierenden Truppe. Da man bei diesen Teufelsarmeniern auf unvorhergesehene Streiche gefaßt sein mußte, hatte der Kaimakam für das Hauptquartier eine Bedeckungsmannschaft angefordert, die nun den Park, den Obst- und Gemüsegarten des Hauses durch ihr Zeltlager verwüstete.
    Die Beratung der Offiziere und Beamten dehnte sich schon ziemlich lange

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