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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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größere wurde der Führung des Komitatschi-Häuptlings unterstellt. Nachdem sie etwas Proviant gefaßt und ihre Patronen ergänzt hatte – was in der Dunkelheit wiederum ein schwieriges und langwieriges Werk war –, zogen diese Männer ein Stück gegen Süden, um sich dann auf einem abgelegenen Wildpfad unendlich vorsichtig, mit traumhafter Schwerlosigkeit gleichsam, in Wald und Dickicht, über Lichtungen und Freihalden hinabzuschleichen und dem Türkenlager zu nähern. Nicht nur die schmiegsame Ortsvertrautheit kam ihnen zu Hilfe, sondern auch die Lagerfeuer der Kompagnien, die der Jüs-Baschi am Rande der Steineichenschlucht hatte anzünden lassen. Diese Feuer wurden auf kahlen oder felsigen Stellen unterhalten, weil sonst, obgleich die große Schlucht selbst dumpfig und feucht war, durch die Trockenheit des Waldwuchses leicht ein Brand hätte entstehen können. Trotz der Lagerfeuer aber gelang es den Komitatschiführern, die ganze ellipsenförmige Schlucht einzukreisen. In den Baumkronen saßen die erstarrten Armeniersöhne, hinter den dichten Arbutusbüschen lagen sie versteckt, da und dort schmiegten sie sich auch ohne rechte Deckung zwischen knorrige Wurzeln. Mit unbewegten Augen beobachteten sie das Lager, das allmählich zur Ruhe kam. Sie hielten ihre Gewehre in Bereitschaft, obgleich es noch mehr als eine Stunde dauern konnte, bis der Feuerüberfall oben auf dem Berg ihnen das Zeichen gab. Bagradian hatte Tschausch Nurhan Elleon beauftragt, mit der anderen Gruppe, die aus hundertundfünfzig Kämpfern bestand, diesen Überfall auf den verlorenen Abschnitt auszuführen. Nurhan schob seine Leute aus den Steinschanzen vor und an den Hauptgraben mit den Flankensicherungen heran. Nicht nur die Finsternis, auch ein wohlwollend singender Wind deckte diese kriechende und huschende Bewegung derart vollständig, daß die Armenier die Gräben von beiden Seiten ein Stück überholen konnten und sie somit umfaßt hielten. Ein besonderer Umstand begünstigte sie dabei. Die türkische Besatzung, eine der stark hergenommenen Kompagnien, hatte unsinnigerweise ein paar Karbidlampen angezündet, die mit ihrem scharfen Licht die Soldatenköpfe grell erleuchteten, während es die Umgebung in tiefstes Dunkel tauchte. Die Armeniersöhne konnten auch hier in einer schier unendlichen Spanne und Ruhe das überdeutliche Ziel suchen. Es war, als ob niemand atme. Kein Glied rührte sich. Jedes Leben schien im stollenlosen Bergwerk dieser Nacht verschüttet zu sein.
    Wo der Saumpfad zwischen eingestürzten Mauern den Vorberg verläßt, um in die breite Rinne der Schlucht aufzusteigen, standen der Kaimakam und der Major am unteren Rande des Truppenlagers. Ein paar Soldaten mit Laternen und Fackeln warteten abseits, um ihnen zu leuchten. Der Jüs-Baschi betrachtete seine sehr moderne Armbanduhr, die ein leuchtendes Ziffernblatt besaß:
    »Höchste Zeit! … Ich werde nämlich schon eine Stunde vor Sonnenaufgang wecken lassen.«
    Der Kaimakam schien um das körperliche Wohl des Majors sehr besorgt zu sein:
    »Wollen Sie nicht lieber die Nacht in unserem Quartier verbringen, Jüs-Baschi? Sie haben einen schweren Tag hinter sich. Das Bett wird Ihnen wohltun.«
    »Nein, nein! Ich habe zum Schlafen keine Ruhe.«
    Der Kaimakam empfahl sich, ging, von den Laternenträgern gefolgt, zwei Schritt hinab, kehrte wieder zurück:
    »Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Jüs-Baschi. Kann ich sicher sein, daß in den nächsten Stunden nichts Unerwartetes geschieht?«
    Der Major, der dem Kaimakam nicht entgegengegangen, sondern nur mit halbgewendetem Kopf stehen geblieben war, unterdrückte ein gehässiges Wort. Unerträglich waren diese Einmischungen des Zivilisten. Mit tadelnder Betonung erklärte er:
    »Ich habe selbstverständlich alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Obwohl meine armen Leute ihre Ruhe brauchen, sind sehr starke Postenketten ausgestellt. Sie hätten sich nicht zurückbemühen müssen, Kaimakam! Denn ich habe mich schon vorhin entschlossen, auch noch Patrouillen auszusenden, um die Umgebung unseres Nächtigungsplatzes abzusuchen …«
    Es geschah nach diesen Worten des Jüs-Baschi. Diese Patrouillen aber, zu Tod ermattete Unteroffiziere und Soldaten, stolperten halb bewußtlos an den starren Armeniersöhnen vorbei, deren Augen aus dem Eichenlaub katzenhaft glommen. Sie rückten nach kurzer Zeit wieder ein und meldeten dem diensthabenden Offizier, das Gelände ringsum sei frei und alles in bester Ordnung.
     
    Gabriel Bagradian

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