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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Er stand weder Rede, noch verteidigte er sich, sondern schwieg mit seinem ausgelaugten Schädel und den stumpf beobachtenden Augen zu den wilden Anklagen und Fragen, die ihn umprasselten. Vielleicht war dieses Schweigen gar nicht so frech, so böswillig, so selbstbewußt, wie es wirkte. Vielleicht, ja höchstwahrscheinlich wußte Kilikian sein plötzliches Versagen gar nicht zu begründen und verschmähte es nur, irgendwelche Ausreden wie Müdigkeit oder mißverstandene Absicht ins Treffen zu führen. (Später konnte er ja auch Ter Haigasun auf dieselbe Frage keine Antwort geben.) Selbstverständlich aber brachte dieses Schweigen seine Ankläger nur noch mehr in Harnisch. Er wurde hin- und hergestoßen, Fäuste tanzten ihm vor der Nase. Ein Schwurgericht hätte ihm vielleicht Notwehr zugebilligt, wenn nicht er den ersten Hieb geführt hätte und wenn dieser Hieb nicht so furchtbar gewesen wäre. Eine Zeitlang ließ sich Kilikian in seiner apathischen Art hin- und herstoßen und es schien, daß er zur Abwehr seiner Verfolger nicht das geringste zu unternehmen gedenke, ja daß er kaum bemerke, was mit ihm vorging. Plötzlich aber riß er die Knochenfaust aus der Tasche und schmetterte sie einem seiner jüngsten Bedränger so schrecklich ins Gesicht, daß dieser mit einem verlorenen Auge und einem zerbrochenen Nasenbein blutüberströmt zusammenbrach. Dies war ein unglaublich blitzhaftes Geschehen. Eine halbe Sekunde lang straffte sich Kilikians lässige Gestalt, seine Augen schienen aufzuflammen, dann waren sie wieder stumpf wie vorher. Keiner konnte ihm ansehen, daß er der Gewalttäter gewesen sei. Anfangs wußten auch wirklich zu seinem Glück die meisten nicht, wie das Ganze gekommen war, und wichen zurück. Dann aber, als sie mit Empörungsschreien wieder auf ihn losfuhren, wäre es ihm übel ergangen, wenn nicht die Polizei der Stadtmulde aufgetaucht wäre und ihn verhaftet hätte.
    Am Morgen, während der Strafverhandlung in der Regierungsbaracke, gestand er ruhig, daß er den Hieb zuerst geführt und seine grausame Wirkung vorausgesehen habe. Er berief sich auch nicht weiter auf den Stand der Notwehr. Es schien, als sei er zu faul oder zu schlapp, um zu reden. Einen Menschen wie ihn mochten die Umstände, unter denen er leben oder sterben mußte, mit einer unaussprechlichen Wurstigkeit erfüllen, die kein andrer ermaß. Gabriel Bagradian hörte dem Gerichtstag schweigend zu. Er sprach kein Wort zur Anklage, kein Wort zur Verteidigung. Das Volk aber in seiner Gereiztheit verlangte eine Bestrafung. Nachdem er das Beweisverfahren geschlossen hatte, seufzte Ter Haigasun:
    »Was soll ich mit dir anfangen, Sarkis Kilikian? Man braucht dich ja nur anzusehen, um zu wissen, daß du in die Ordnung Gottes nicht hinein paßt. Ich sollte die Ausstoßung über dich verhängen …«
    Ter Haigasun verhängte die Ausstoßung nicht, sondern verurteilte den Russen zu fünf Tagen Gefängnis in Fesseln, durch drei Fasttage verschärft. Die Strafe war weit härter als sie erscheinen mag. Sarkis Kilikian stürzte wegen einer Rauferei, bei der er der Bedrängte gewesen, vom Range eines wichtigen Kampfführers wiederum in die Unterwelt des Verbrechers hinab. Es war eine grausame Entehrung. Doch er gab durch keine Miene zu verstehen, ob solch ein Ding wie Ehre in ihm noch verwundbar sei. Nach Schluß des Verfahrens wurde er an Händen und Beinen mit Stricken gefesselt und in den Kotter gesperrt, der den dritten Raum der Regierungsbaracke bildete. Nun sah Kilikian so aus, wie er schon einigemal während seines unergründlichen Lebens ausgesehen hatte, in dem die Strafe oft keiner und oft einer undeutlichen Schuld auf dem Fuße gefolgt war. Er nahm auch diese Strafe mit seinen ungerührten Augen hin als eine wohlbekannte und unentrinnbare Gegebenheit seines raffinierten Schicksals. Das Gefängnis aber unterschied sich von allen anderen derartigen Anstalten seiner erfahrungsreichen Laufbahn schon dadurch, daß er es mit einem erhabenen Geiste wie Apotheker Krikor teilen mußte. Rechts und links zwei kleine Bretterzellen, die einander aufs Haar glichen. Die eine war ein schmachvoller Kotter, die andre aber das ganze Universum.
     
    Gabriel Bagradian spürte in allen Gliedern die Nähe eines unerforschlichen Ereignisses, das vielleicht den entscheidenden Sieg von vorgestern in Frage stellen konnte. Er hatte deshalb mit größtem Nachdruck darauf bestanden, daß die Boten noch heute in die Welt gesendet würden. Es mußte schnell etwas

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