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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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geschehen. Und war es auch ein zweckloses Beginnen, so entstand doch Erwartung und Spannung dadurch. Die Freiwilligen versammelten sich, wie der Führerrat es angeordnet hatte, auf dem Altarplatz. Alles war auf den Beinen, denn die Wahl dieser Boten, die ihr Leben froh zum Opfer brachten, ging das ganze Volk an.
    Gabriel kam von einer kurzen Visitierung der Zehnerschaften. Eingedenk der gefährlichen Erschlaffung und Streitsucht, die sich auszubreiten drohte, hatte er für diesen Nachmittag bereits wieder Gefechtsexerzieren befohlen. Durch die zweihundert erbeuteten Mausergewehre war nun das ganze erste Treffen vollgültig bewaffnet. In die Lücken, die der schwere Kampf gerissen hatte, wurden die besten Männer der Reserve eingeteilt. Schon hörte man die stotternde Trompete Tschausch Nurhan Elleons, der mit der Ausbildung dieser Neulinge soeben begann. Iskuhi war Gabriel auf halbem Wege entgegengekommen. Seit jener ersten jähen Seelendurchdringung suchte sie mit kindhafter Offenheit seine Nähe. Jetzt gingen sie das Stück bis zum Altarplatz fast schweigend nebeneinander. Wenn sie neben ihm war, dann erfüllte ihn immer jene seltsam ruhige Sicherheit. Er hatte immer das Gefühl, die junge Iskuhi sei die vertrauteste Bekanntschaft seines Lebens, die in holder Wärme weit über die Grenzen bewußter Erinnerung hinausreiche. Auch auf dem Versammlungsort wich sie nicht von seiner Seite, obgleich sie die einzige Frau war, die ohne jeden Grund bei der ratschlagenden Gruppe der Führer stand. Hatte sie keine Furcht, daß ihr Benehmen auffallen, daß ihr Bruder Aram Verdacht fassen könnte? War es der Freimut eines ungewöhnlichen Wesens, das, von seinem ersten Gefühl ergriffen, alles bedenkenswerte Drum und Dran zu einem leeren Traum zerrinnen sieht?
    Etwa zwanzig junge Leute warteten als Freiwillige auf die Entscheidung des Führerrats. Fünf Halbwüchsige waren darunter. Man hatte die Ältesten der Jugendkohorte zur Meldung zugelassen. Mit Schreck und Zorn im Herzen bemerkte Gabriel neben Haik auch seinen Sohn Stephan. Nach einer kurzen Rücksprache mit den andern Volkshäuptern traf Ter Haigasun die Auswahl. Ihm oblag ja alles, was mit dem Urteil über Menschen, über ihre Fähigkeiten und Kräfte zusammenhing. Was die Schwimmer betrifft, so war der Entscheid eine Selbstverständlichkeit, die niemand in Zweifel zog. In Wakef, jener südlichsten Ortschaft des armenischen Sprengels, die am Rande der Orontesebene und damit schon an der Küste lag, gab es zwei berühmte Schwimmer und Taucher, einen neunzehn- und einen zwanzigjährigen Jüngling. Ter Haigasun überreichte ihnen die Ledergürtel mit dem eingenähten Hilferuf an den Kommandanten irgend eines englischen, amerikanischen, französischen, russischen, italienischen Kriegsschiffes. Sie sollten nach Sonnenuntergang vom Nordsattel aufbrechen, nachdem sie von den Ihrigen Abschied genommen hätten.
    Die Frage des Aleppoläufers brauchte zu ihrer Lösung schon einige Minuten länger. Man war übereingekommen, daß es besser sei, nur einen einzigen Menschen dieser gefahrüberladenen Aufgabe auszusetzen. Pastor Aram Tomasian meinte klärlich, daß ein erwachsener Armenier weit weniger Möglichkeiten habe, die Hauptstadt des Vilajets lebendig zu erreichen, als ein Knabe, der sich schon durch seine Kleidung von den muselmanischen Knaben kaum unterscheide und auch sonst überall leichter durchzuschlüpfen verstehe. Diese vernünftige Begründung wurde anerkannt und allgemein fiel sogleich ein einziger Name: »Haik«. Dieser düster entschlossene Bursche mit steinharten Gliedern und märchenhafter Gelenkigkeit war der Richtige, er oder keiner. Auch besaß unter den Bauern des ganzen Lagers niemand diese blinde Vertrautheit mit der Erde, diese Rundaugen eines großen Vogels, diese Nase eines Dachses, dieses Gehör einer Ratte und diese Schmiegsamkeit einer Otter. Wenn einem der todesgefährliche Aleppolauf gelang, so nur Haik.
    Als aber Ter Haigasun die Wahl Haiks von der ersten Altarstufe herab verkündete, kam es zu einem ungebührlichen Auftritt mit Stephan. Gabriels Gesicht verzerrte sich vor Ärger, als er seinen Sohn sah, der frech vor die Front der Freiwilligen trat und sich vor ihm aufpflanzte. Noch niemals war ihm die unangenehme Frühreife, die innere und äußere Verwahrlosung seines Ebenbildes so klar geworden wie jetzt. Wie ein wütender Neger bleckte Stephan die Zähne:
    »Warum denn nur Haik? Ich will auch nach Aleppo …«
    Gabriel Bagradian machte, ohne ein

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