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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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steinerner Schlaf. Die Kämpfer schliefen, wo sie hingefallen waren. Die wenigsten nur hatten die Kraft gehabt, sich bis zu ihren Decken zu schleppen. Die Knaben schliefen in Knäueln auf der nackten Erde. In den Hütten der Stadtmulde hatten sich die Frauen auf die Matten hingeworfen, zerrauft und ungewaschen wie sie waren, ohne sich um ihre kleinen Kinder zu kümmern, die hungrig greinten. Bagradian schlief und die Führer schliefen alle. Selbst Ter Haigasun hatte nicht mehr die Kraft besessen, die Dankmesse zu vollenden. Gegen Schluß der heiligen Handlung war er von unabwendbarer Erschöpfung überwältigt wie ein Trunkener zusammengesunken. Die Muchtars schliefen, ohne unter den Schafherden das Schlachtvieh auszuwählen. Die Metzger schliefen und die Melkerinnen. Keiner ging an sein Tagewerk. Die Feuerstellen auf dem Küchenplatz wurden nicht angeheizt, Wasser wurde von den Quellen nicht zugetragen. Niemand sorgte für die vielen Verwundeten, die noch in den Stellungen schmachteten oder sich im Laufe der Stunden zum Lazarettschuppen geschleppt hatten. Was sich in dem kühlen Wort »Verwundeter« so bildlos summarisch ausnimmt, dort lag es im weiten Umkreis in seiner ganzen schauerlichen Wirklichkeit: Gesichter ohne Nasen und Augen, Kinnladen wie blutiger Brei, von Dumdumgeschossen zermörserte Leiber, ächzende Menschen mit Bauchschüssen, die vor Durst vergingen. Und all diesen Elenden konnte nicht Bedros Hekim, sondern nur der Tod helfen. Doch ehe er sich über diesen oder jenen gnädig beugte, half auch ihnen eine narkotische Fieberbenommenheit über die langsamen Stunden hinweg.
    Im Tal unten schliefen die Kompagniesoldaten, die Saptiehs, die Tschettehs, soweit sie dem Gemetzel entkommen waren. Die Offiziere der Truppen schliefen in den Zimmern der Villa Bagradian. Das erste Opfer des gestrigen Tages, den Kolagasi aus Aleppo, hatte man vor vielen Stunden schon mit einem Sanitätswagen nach Antakje gebracht. Jetzt schlief ein neuer Verwundeter, der Jüs-Baschi, in Stephans Bett. Auch den Kaimakam in Juliettens Zimmer hatte der Schlaf niedergeworfen. Er war mit einem Bericht an den Wali von Aleppo beschäftigt gewesen, als er sich nicht länger mehr aufrecht halten konnte. Hinter der Blende dieses Schlafes jedoch arbeitete sein Bewußtsein und sein Gewissen mit nackterer Grausamkeit weiter als in dem eitlen Faltenwurf des Wachseins. Er hatte soeben den schwersten Mißerfolg seiner Laufbahn erlebt. In jedem Mißerfolg aber liegt ein Element der Gnade, weil er die ganze Lächerlichkeit menschlicher Wert-Anmaßungen grinsend entlarvt. Der Kaimakam, hoher Beamter, angesehenes Ittihad-Mitglied, hochmütiger Erz-Osmane, von der Überlegenheit seiner Wehr- und Herrenrasse restlos durchdrungen, was hatte er erfahren müssen? Die Schwachen waren die Starken, und die Starken waren in Wahrheit ohne Wert; ja sie waren wertlos selbst in jenen heroischen Belangen, derentwegen sie die Schwachen verachteten. Die Schlaf-Erkenntnisse des Kaimakams aber reichten noch tiefer. Bisher hatte er nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, daß sich Enver und Talaat im vollen Recht befanden, ja mehr noch, daß sie der armenischen Millet gegenüber als geniale Staatsmänner handelten. Nun aber stieg ein wütender Zweifel an Enver Pascha und Talaat Bey im Bewußtsein des Kaimakams auf, denn der Mißerfolg ist auch der strengste Vater der Wahrheit. Hatten Menschen das Recht, einen weisen Plan auszuarbeiten, mittels dessen ein andres Volk ausgerottet werden sollte? Gab es überhaupt einen zureichenden Nützlichkeitsgrund für einen solchen Plan, wie der Kaimakam hundertmal behauptet hatte? Wer entscheidet, ob ein Volk besser oder schlechter sei als das andere? Menschen können das gewiß nicht entscheiden. Und Gott hatte heute auf dem Damlajik eine sehr eindeutige Entscheidung gefällt. Der Kaimakam sah sich in gewissen Situationen, die ihn um seiner selbst willen nicht wenig rührten. Er schrieb an Seine Exzellenz, den Wali von Aleppo ein Abschiedsgesuch und zerstörte freiwillig den ganzen Aufbau seines Lebens. Er bot den Armeniern in Person Gabriel Bagradians, der sich in einen Bademantel hüllte, Frieden und Freundschaft an. Er trat im Zentralausschuß von Ittihad für sofortige Rückbeförderung der armenischen Transporte ein und setzte eine allgemeine Steuer durch, um das Unrecht gut zu machen. Auf dieser ethischen Höhe jedoch vermochte sich seine Seele nur während des tiefsten Tiefschlafes zu halten. Je dünner die Substanz seines

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