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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ausgesandten Abteilungen bereits von den hundertunddreizehn Vermißten siebenundsechzig Tote insgesamt geborgen. Dazu kam noch ein beträchtlicher Teil der Schwerverwundeten, die ohne wirkliche Hilfe die Nacht nicht mehr überlebten. Doktor Bedros Altouni wurde in dieser traurigen Angelegenheit vom Senate vorgeschickt. Er setzte mit seiner schartigen Stimme, die freilich zu Leichenbittertönen nicht fähig war, den versammelten Angehörigen auseinander, daß es im Hinblick auf die durch den Waldbrand schrecklich gesteigerte Sommerhitze unumgänglich notwendig sei, den Gefallenen ein rasches Begräbnis zu bereiten. Jede Minute Zögerns bedeute schwere Gesundheitsgefahr für die Lebenden. Er, Bedros Hekim, erwähne solche Dinge nicht gerne vor Trauernden, aber schließlich werde sich jeder mit seinem eigenen Geruchsinn von dieser Notwendigkeit überzeugt haben. Also frisch, keine Zeit verloren! Jede der betroffenen Familien möge unverzüglich auf dem dafür bestimmten Platz ihrem Toten das Grab ausheben. Sie vollbringe mit dieser Arbeit ein frommes Liebeswerk, das ihr der Himmel zweifellos höher anrechne als alle langwierigen Gebete und Gebräuche. Der Führerrat wäre, was Altounis Meinung anbelangt, weiser gewesen, wenn er die entseelten Körper der Helden dem großen Feuer anheimgegeben hätte. Dazu aber habe er sich aus Mitgefühl für die Trauernden nicht entschließen können. Die Toten würden daher zum Troste der Witwen und Waisen in ihre Sterbehemden gekleidet sein und die Heimaterde unter ihrem Haupte nicht vermissen:
    »Nun aber ans Werk«, mahnte Bedros Hekim klapprig, der in diesem Augenblick nicht siebzig-, sondern neunzigjährig aussah. »In einigen Stunden muß alles vorüber sein. Die Reservemänner sind abkommandiert, um euch zu helfen.«
    Dieser Befehl weckte nicht, wie einige gefürchtet hatten, Murren und Widerspruch unterm Volke. Der Hinweis auf die Gesundheit war stark genug, um aufbegehrende Gefühle zu unterdrücken. Auch machte sich die beginnende Verwesung tatsächlich schon bemerkbar. Drei Stunden nach Mitternacht war alles geschehen. Die ermüdende Arbeit hatte den Schmerz getötet. Nur sehr wenige von den Angehörigen standen mit ihren aufgesparten Totenkerzen an den Gräbern. Der Abschein des Bergbrandes verschluckte diese armseligen Lichter. Nunik und ihre Kolleginnen waren diesmal ausgeblieben. Sie wagten sich nicht mehr aus ihren Löchern hervor, seitdem die Türken zwei alte Männer von der Bettlerzunft auf den Maisfeldern erwischt und zu Tode geprügelt hatten.
    Für den nächsten Morgen, den fünfundzwanzigsten des August und den sechsundzwanzigsten des Lagers, waren zwei öffentliche Ereignisse von großer Bedeutung angesetzt. Das eine betraf die freiwillige Meldung und feierliche Wahl der Schwimmer und Läufer, die unverzüglich nach Alexandrette und Aleppo abgehen sollten. Das andre Ereignis war die Gerichtsverhandlung wegen der Missetat, deren sich Sarkis Kilikian schuldig gemacht hatte. Bisher war Ter Haigasun, kraft seiner verfassungsmäßigen Aufgabe, als Friedens- und Schiedsrichter nur in einfachen Streitfällen aufgetreten. In diesen unwichtigen Prozessen fällte er stets ohne jede Förmlichkeit mit rascher Entscheidung sein unanfechtbares Urteil. Für dieses ungeduldige Judizieren war der Freitag bestimmt. Heute, an einem Mittwoch, mußte Ter Haigasun das erstemal auf dem Damlajik als Strafrichter amtswalten. Der Fall verhielt sich kurz folgendermaßen: Sarkis Kilikian trug durch sein ganz unerklärliches Verhalten während des letzten überraschenden Angriffs der Türken gegen seinen Abschnitt ohne Zweifel die Hauptschuld an den schweren Verlusten des Bergvolkes. Gabriel Bagradian dachte aber nicht daran, ihn zur Verantwortung zu ziehen, denn erstens hatte sich der Russe bei allen vorhergehenden Angriffen als höchst tapfer und umsichtig bewährt, zweitens besaß Gabriel viel Verständnis für gewisse Unberechenbarkeiten des Menschen und drittens wußte er, daß sich ein bestimmter Augenblick des Kampfes nachher niemals mehr wirklichkeitsgemäß rekonstruieren lasse. Andre Leute aber dachten in diesem Punkte anders als der oberste Befehlshaber, insbesondere waren das die übrigen Abschnittsführer, die Männer der Zehnerschaften und mancherlei Volk noch sonst. Auf dem Altarplatz war es zu einem Auflauf gekommen. Sarkis Kilikian wurde von den Kameraden seiner Besatzung äußerst heftig ins Gebet genommen. Er sollte Rede stehen, sein Verhalten erklären und verteidigen.

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