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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Stadtmulde abschwenkte, um mit seinem Vater zu sprechen, wollte er noch rasch einen Blick nach Howsannah tun. Es kam aber alles anders. Vor Juliettens Zelt saß Iskuhi und blickte leer in die Richtung, nach der Gabriel vor kurzem verschwunden war. Sie bemerkte ihren Bruder erst im letzten Augenblick. Aram ließ sich ihr gegenüber auf die Erde nieder und suchte sehr verlegen nach Worten:
    »Lang haben wir uns nicht mehr gesprochen, Iskuhi …«
    Sie machte eine wegwerfende Bewegung, als könne ein menschliches Erinnerungsvermögen den Abgrund zwischen allem Vergangenen und dem Gegenwärtigen gar nicht ausmessen. Arams Worte tasteten sich näher an sie heran:
    »Howsannah entbehrt dich sehr. Sie war an dich und deine Hilfe ja immer gewöhnt … Und jetzt, wo das arme Kind da ist und es so viel Arbeit gibt …«
    Iskuhi unterbrach ihn ungeduldig:
    »Aber du weißt doch, Aram, daß ich gerade jetzt wegen des Kindes am allerwenigsten zu ihr kommen kann …«
    »Gut, du hast diese Krankenpflege hier übernommen. Das ist sehr schön von dir … Doch vielleicht braucht man dich in deiner eigenen Familie jetzt dringender …«
    Iskuhi schien sehr erstaunt zu sein:
    »Die Hanum hier drinnen hat keinen Menschen … Howsannah aber ist schon wieder wohlauf und hat Helferinnen, so viel sie will …«
    Der Pastor schluckte mehrmals, als habe er Halsschmerzen:
    »Du kennst mich, Iskuhi. Ich rede nicht gern herum … Willst du ganz offen zu mir sein? In unserer Lebenslage wäre alles andre ja lächerlich …«
    Sie ließ mit leichter Feindseligkeit ihren Blick auf dem Bruder ruhen:
    »Ich bin ganz offen zu dir.«
    Nun wollte er ängstlich ihrer Unschuld ein Brücke bauen. Wenn es sich nur um Wohlgefallen, Freundschaft, Sympathie handelte, um etwas, das nicht tödlich ernst war, dann wünschte er brennend, daß sie ihn streng zurückweise und den Verdacht der Schwägerin empört Lügen strafe:
    »Howsannah hat große Angst um dich, Iskuhi. Sie meint, gewisse Dinge erkannt zu haben. Wir haben heute die halbe Nacht darüber gestritten. Deshalb frage ich dich das, verzeih mir! Ist zwischen dir und Gabriel Bagradian irgend etwas vorgegangen?«
    Iskuhi errötete nicht, noch auch zeigte sie die geringste Betretenheit. Ihre Stimme war ruhig und fest:
    »Zwischen mir und Gabriel Bagradian ist nichts vorgegangen … Aber ich liebe ihn und werde bei ihm bleiben bis zum Ende!«
    Aram Tomasian sprang entsetzt auf die Füße. Als eifersüchtigen Bruder hätte ihn jedes Liebesbekenntnis in schweres Unbehagen gestürzt. Um so heftiger traf ihn daher der mit dreister Ruhe geführte Stoß:
    »Und das wagst du so leicht auszusprechen, mir ins Gesicht, mir!?«
    »Du hast es verlangt, Aram …«
    »Bist du das, Iskuhi, du? Mir bleibt der Verstand stehn. Und deine Ehre, und deine Familie? Bedenkst du um Jesu Christi willen nicht, daß er ein verheirateter Mann ist?!«
    Sie hob den Kopf mit einem Ruck zu ihm auf. In ihren Zügen lag unbesiegbare Überzeugung: »Ich bin neunzehn Jahre alt und werde keine zwanzig werden!«
    Tomasians Pastorenstimme dröhnte empört:
    »In Gott wirst du älter werden, denn in Gott ist deine Seele unsterblich und verantwortlich!«
    Je lauter Aram wurde, um so leiser Iskuhi:
    »Ich fürchte mich nicht vor Gott …«
    Der Pastor schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. Ich fürchte mich nicht vor Gott. Was der Ausdruck höchster Gewißheit war, mißverstand er als verstockte Frechheit:
    »Weißt du, was du tust? Ahnst du den Pfuhl nicht, in dem du lebst? Dort drin liegt die Frau, todkrank, bewußtlos. Eine schamlose Betrügerin! Aber ihr betrügt sie noch hundertmal schamloser. Ihr führt ein Leben, niedriger, grauenhafter als die primitivsten Moslems! Ah, ich tue den Moslems unrecht …«
    Iskuhi krampfte sich mit der rechten Hand am Zeltseil fest. Ihre Augen wurden groß und größer. Tomasian hielt das für die Wirkung seiner Worte. Gott sei gepriesen, noch hatte er seinen Einfluß auf die Schwester nicht verloren. Er zog deshalb mildere Saiten auf:
    »Wir wollen vernünftig sein, Iskuhi! Denk doch an die Folgen, nicht nur für dich und uns, sondern auch für Bagradian und das ganze Lager! Dieser heillosen Verirrung muß ein Ende gemacht werden! Sofort! Der Vater wird dich abholen und zu sich nehmen …«
    Aus Iskuhis Brust drang ein verhauchender Laut. Sie lehnte sich zurück. Jetzt erst bemerkte Pastor Tomasian, daß ihre Schmerzgebärde nicht von der moralischen Einsprache herrührte, sondern daß sich

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