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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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verloren, da ich meinen Sohn verloren habe. Und die andre …«
    »Du kennst deinen letzten Tag noch nicht.«
    »Er ist sehr nahe. Und doch kommt er mir viel zu langsam. Oft möchte ich hinuntersteigen zu den Euren, damit nur schon endlich, endlich alles vorbei ist.«
    Der Agha sah auf seine leuchtenden Hände herab:
    »Du wirst dein Leben nicht erniedrigen, sondern erheben. Ihr Bagradians habt mehr Kräfte als andre Menschen … Doch alles steht bei Gott.«
    Neben Rifaats gekreuzten Beinen lag die gelbe Aktentasche und auf ihr, schon vorbereitet, der Brief Pastor Harutiun Nokhudians an Ter Haigasun:
    »Du weißt, Bagradian, daß ich schon seit Monaten unterwegs bin, um für euch zu wirken. Die Ruhe meines Alters hab ich dahingegeben. Und ich werde auch noch bis nach Deïr es Zor mit Gottes Hilfe kommen. Mein erster Weg in Syrien aber war zu dir. Ihr habt Freunde im Ausland und im Innern. Ein deutscher Pastor hat viel Geld für euch gesammelt und ich stehe mit ihm in Verbindung. Fünfzig Sack Weizen habe ich aufgebracht. Es war nicht leicht. Sie haben sie nicht durchgelassen. Ich dachte mirs gleich. Dem Kaimakam aber wird es nicht gelingen, sie zu konfiszieren. Sie werden euren Brüdern in den Lagern zugute kommen … Diese Säcke aber waren nicht der Grund, warum ichs auf mich genommen habe, den Musa Dagh zu ersteigen …«
    Er händigte Gabriel den Brief Nokhudians aus:
    »Auf diesem Blatt erfahrt ihr, was ihr sonst nie erfahren hättet, das Schicksal eurer Landsleute. Zugleich aber möget ihr wissen, daß unser Volk nicht nur aus Ittihad, Talaat, Enver und ihren Knechten besteht. Denn viele haben wie ich ihre Wohnstätten verlassen und reisen nach Osten, um den Verhungernden zu helfen …«
    Gewiß, der Agha Rifaat Bereket war ein wunderbarer Mann, würdig, daß Gabriel im Namen des Volkes vor ihm niedergekniet wäre. Doch all diese umständlich aufgezählten Wohltaten und Strapazen lösten nicht die Bitterkeit in seiner Seele. So groß die Opfer auch waren, der Hinweis auf sie machte ihn ungeduldig:
    »Den Verschickten werdet ihr vielleicht helfen, uns nicht …«
    Der Alte blieb unwandelbar gemessen:
    »Dir könnte ich wohl helfen. Dies ist auch der wichtigste Grund, warum ich in deinem Zelt hier sitze.«
    Und nun floß im eintönigen Paß-Schritt der Worte ein Rettungsplan von des Agha Lippen, der Gabriels Herz stillstehen ließ. Bagradian habe die fünf Männer der Begleitung draußen gewiß gesehen, so begann Rifaat Bereket. Die beiden Alten seien Mitglieder einer frommen Bruderschaft, die derselben Aufgabe dienten wie er, – die beiden Eseltreiber langjährige Diener seines Hauses in Antakje. Was aber den fünften Mann anbelangt, so habe es mit dem eine weit schwierigere Bewandtnis. Er trage den Tod von vielen Armeniern auf dem Gewissen, sei aber in Stambul vom Scheich der »Herzensdiebe« Achmed belehrt und bekehrt worden. Er habe ein Gelöbnis abgelegt, für die Tat seiner niedrigen Seelenkräfte Buße zu tun und an den Armeniern wieder gutzumachen, was sein Haß an ihnen verbrach. Dieser Mann sei also bereit, mit Gabriel Bagradian die Kleider zu tauschen und zu verschwinden. Auf dem Kirchplatz habe der Müdir die Pässe aller Männer genau vidiert und die Namen in einer Liste verzeichnet. Bei der Rückkehr werde gewiß niemand mehr die Teskerés noch einmal abverlangen. Sollte der Müdir aber wider alles Erwarten doch Schwierigkeiten machen, so habe der verschleierte Bagradian einfach den Paß seines Doppelgängers vorzuweisen. Auch der Mülasim und seine Soldaten – sie haben sechs Personen eskortiert und nehmen sechs wieder in Empfang – würden nicht den leisesten Verdacht fassen, daß eine dieser Personen vertauscht worden sei. Ihm, dem Agha, einem ehrenhaften Mann, gingen solche polizeimäßige Unregelmäßigkeiten gegen die Gesinnung, hier aber gelte es, den Letzten der Familie Bagradian in die sichere Hut seines Hauses zu Antakje zu bringen. Er tue dies für die Seelenruhe und das Andenken des verewigten Awetis, von dessen Freundschaft er unzählige Beweise empfangen habe, er als blutjunger Türke von dem alten Armenier.
    Gabriel erstickte. Das Segel des Lebens blähte sich so mächtig in seiner Brust, daß er vor den Zelteingang stürzte, um Luft zu bekommen. Er sah die Begleiter, wie sie schweigsam auf der Erde hockten. Er sah den Mann des Gelöbnisses, der längst seinen Schleier abgelegt hatte. Ein stumpfes, gewöhnliches Gesicht, dem man weder die Armeniermorde noch auch den

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