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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Sühne-Entschluß anmerkte. Er sah den Kreis der Volksmenge, die von wilder Spannung geschüttelt schien. Er sah Iskuhi, die vor dem Krankenzelte stand. Und auch sie war fern und unwirklich wie alles andre. Wirklich war nur der Gedanke des Lebens: Ein dunkles Zimmer in Rifaats Haus. Die Holzladen des Fensters, das in den Brunnenhof hinausgeht, sind geschlossen. Und hier, alles vergessend, nichts mehr wissend, einer neuen Geburt entgegen warten … Als Gabriel nach einigen Minuten, wieder ruhig geworden, in das Scheichzelt zurücktrat, küßte er die Hand des Alten:
    »Warum bist du nicht damals gekommen, Vater, als alles noch leicht war, als wir unten in der Villa lebten …?«
    »Ich habe sehr lange gehofft, es sei von euch abzuwenden. Für dich aber ist es noch immer abzuwenden.«
    »Nein, auch für mich ist es nicht mehr abzuwenden.«
    »Fürchtest du dich? … Wir werden die Nacht abwarten. Es ist nicht die geringste Gefahr dabei.«
    »Tag oder Nacht?! Nicht das ist es, Agha!« Er machte eine kleine schamhafte Pause: »Meine Frau ist erst heute vom Tode erwacht.«
    »Deine Frau? Du wirst andre Frauen finden.«
    »Mein Kind liegt hier oben …«
    »Du hast die Pflicht, deinem Stamm einen neuen Sohn und Fortführer zu schenken.«
    Die schweren Augen des Alten blieben ungerührt. Gabriels Antwort aber war sehr leise, so daß er sie wohl gar nicht verstand:
    »Wer dort ist, wo ich bin, der kann nicht wieder von vorne anfangen.«
    Der Agha machte aus seinen belebten Händen eine Schale, als wollte er den Regen der Zeit auffangen:
    »Warum denkst du an die Zukunft? Denk an die nächsten Stunden!«
    Abschiednehmendes Nachmittagslicht durchströmte das Zelt. Gabriel Bagradian stand unhöflicherweise auf:
    »Ich bin es gewesen, der den sieben Gemeinden die Idee eingegeben hat, auf den Musa Dagh zu gehn. Ich habe den ganzen Widerstand organisiert. Ich war der Führer in den Kämpfen gegen euer Militär, die es möglich gemacht haben, daß wir noch hier sind. Ich bin und werde der Verantwortliche, der Schuldige sein, wenn in ein paar Tagen die Euern alles Lebendige in diesem Lager, ja selbst die Kranken und Säuglinge zu Tode foltern werden. Was meinst du, Agha? Kann ich mich da einfach davonmachen?«
    Agha Rifaat Bereket sagte darauf nichts mehr.
     
    Gabriel Bagradian ließ die Geschenke des Agha unverzüglich auf den Altarplatz bringen, damit der Führerrat die Verteilung vornehme. In der Hauptsache handelte es sich um Zucker, Kaffee und ein wenig Tabak. Doch es war den Treibern gelungen, auch zwei Säcke mit Reis auf den Berg zu schmuggeln. Denkt man sich diese Gaben auf mehr als tausend Familien verteilt, so waren nur winzige Rationen zu erwarten. Gleichviel! Noch einmal heißen Kaffee in kleinen Schlucken genießen dürfen, daß alle Nerven zu leben und zu lächeln beginnen! Noch einmal den »Vater des Duftes« bis in die Tiefen des Zwerchfells einziehen, den Rauch langsam durch Nase und Mund ausstoßen und ihm gedankenlos nachstarren, ohne Sorgen und Morgen. Der tatsächliche Wert dieser Geschenke bedeutete weniger als die psychische Belebung und Aufmunterung, die sie gerade an diesem Tage des Herdenunglücks hervorriefen. Auch die beiden Packesel und zwei der Reittiere wurden von den Türken zurückgelassen. Nur der alte Agha behielt das seine für den Ritt ins Tal.
    Den Weg zum Nordsattel legten der Wohltäter und seine Fünf diesmal ohne verbundene Augen zurück. Voran ging der Mann des Gelöbnisses mit der grünen und weißen Fahne. Er schien weder erfreut noch verstimmt darüber zu sein, daß er um sein gutes Werk gekommen war. Als Ehrengeleit folgten den Fremdlingen außer Gabriel Bagradian noch Ter Haigasun, Bedros Hekim und zwei Muchtars. Hinterher wälzte sich eine behexte Volksmenge. Die Unterredung im Scheichzelt, von deren Inhalt niemand etwas wußte, wurde zum Quell phantastischer Erwartungen. Der Agha ging in einem Nebel von Segenswünschen, Hilferufen, Tränenbitten, Hoffnungsfragen. Er konnte kaum vorwärtskommen. Nie, auch in den Lagern der Verschickung nicht, hatte Rifaat Bereket ähnliche Gesichter gesehen wie hier auf dem Damlajik. Die fieberwilden Fratzen der Männer umlauerten ihn gierig. Die stockdürren Arme der Weiber, aus zerrissenen Ärmeln stechend, hielten ihm die kleinen Kinder bettelhaft vors Gesicht. Fast alle diese Kinder trugen schwankende Wasserköpfe an dünnen Hälschen und in ihren staunenden Riesenaugen lag ein Wissen, das Menschenkindern verboten ist. Der Agha erkannte,

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