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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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seltsame Tracht der Burschen ab und überboten einander in einem verlegen krampfhaften Geflüster, in dem verräterische Laute mitschwangen. Dies alles aber war flach gegen Schuschiks Ausbruch. Jemand hatte sie aus ihrer Hütte geholt. Sie hörte, daß Haik in Sicherheit sei. Zuerst schien sie es gar nicht aufzufassen. Stumpf vornübergebeugt sah sie zur Erde. Seit Stephans Tod hatte sie ihren Blick kaum mehr gehoben. Sie war noch knochiger geworden. Ihre harten Männerfäuste aber hingen schlaff herab. Sie holte sich nur mehr sehr unregelmäßig ihr Essen von den Austeilungstischen. Wenn jemand sie ansprach, wandte sich Schuschik noch gröber, noch gehässiger ab als früher. Jetzt aber fing ihr ungeschlachter Rücken ein Geflüster auf:
    »Schuschik! Hör doch! Haik lebt … Haik lebt …«
    Es dauerte lange, ehe das Geflüster in sie eindrang, ehe sich ihr Wesen damit vollsog und der ungeschlachte Rücken allmählich weiblich sanft wurde. Sie sah von einem zum andern, vorerst geduckt noch, dann aber flehend, man solle nicht grausam sein. Da aber tat einer der Schwimmer ein übriges, indem er nach Art erfolgreicher Abenteuerkünder dem Glück nachhalf und ein bißchen aufschnitt:
    »Rößler und Jackson sind täglich beisammen. Der Deutsche hat es mir selbst gesagt, daß er Haik gesehen hat und daß es dem Jungen ausgezeichnet geht …«
    Da durchdrang die Gewißheit auch den fernsten Punkt von Schuschiks Sein. Zwei lange, stöhnende Atemzüge. Sie stolperte mehrere Schritte vor. Und diese Schritte führten mitten aus einer fünfzehnjährigen Einsamkeit in den leeren Kreis, der sich um die Schwimmer und ihre Familien gebildet hatte. Noch ein Stolperschritt, dann lag sie da, stützte sich sogleich wieder auf, kniete, diese mächtige Gestalt. In ihrem farb- und alterslosen Gesicht ging etwas Staunendes auf, die Sonne einer jähen unaussprechlichen Menschenliebe. Diese Abweisende, diese lebelang Verkrochene hob ihre plumpen Arme schwach und sehnsüchtig gegen die Wiedervereinten. Die plumpen Arme Schuschiks aber baten: Nehmt mich auf! Laßt mich teilnehmen! Denn nun gehöre ich zu euch …
     
    Noch wurde sie nicht aus dem Schatten gestoßen. Noch lag der Eingang fern, eine rundlich winzige Lichtscheibe, wie das Ende eines Tunnels. Noch durfte sie in der großen Schwäche zu Hause sein, in dem guten Labyrinth, das nicht mehr brannte und dampfte, sondern dumpfig kühl sie umlagerte. Sie sah meist nur bewegte Flächen. Wenn sie sich anstrengte, vermochte sie diese Flächen zu entziffern. Doch sie war ja viel zu klug, um sich anzustrengen. Alle Worte und Schälle schlugen hohl an ihr Ohr wie in einem Raum mit dicken Polsterwänden. Und da stand sie wirklich in der Telephonzelle am unteren Ende der ChampsÉlysées und rief Gabriel im armenischen Klub an, denn man gab im Trocadéro eine neue Komödie, die sie sehn wollte. Wenn sich aber das kühle unbestimmte Leben so ausgesprochen verdichtete, wurde sie sofort nervös und floh. Der einzige ihrer Sinne, dem sie sich mit Wonne hingab, war nicht nur in Ordnung, sondern überentwickelt, grandios gesteigert: der Geruch. Sie roch ganze Welten in sich hinein. Welten, die zu nichts verpflichteten. Violette Kleefelder, Vorfrühling in kleinen nordischen Hausgärten, wo farbige Glaskugeln die Straße spiegeln. Nur um Gotteswillen keine Rosen! Der Geruch, aus Sonnenstaub, Mittagslärm, Autobenzin, kaltem Weihrauch und Keller tausendfältig gemengt, wenn man die kleine Seitenpforte im Brettergerüst öffnet, die in die Kathedrale führt. Wieder einmal beichten und die Kommunion empfangen! Selten genug geschiehts ja und nun ist es doch höchste Zeit, falls überhaupt noch geholfen werden kann. Aber der gewisse Name fällt ihr nicht ein. Ist es denn notwendig, etwas zu beichten, das nicht wirklich geschehn ist und wahrscheinlich nur zur Krankheit gehört? Doch nun beginnt schon wieder dieser fürchterliche Geruch der Myrthenbüsche. Nur das nicht, Jesus Maria! Die Myrthen werden durch ein starkes Gegenmittel beschworen: Haare waschen. Sie sitzt bei Fauchardière, rue Madame 12, in der engen feuchtwarmen Kabine, weißverhüllt, weit zurückgelehnt im Frisierstuhl. Kein Wohlgeruch, nur der herbe ländliche Duft der Kamille. (Bäuerinnen, die Sonntags zur Messe gehn.) Juliettens Kopf schwebt in einer Wolke von Kamillenschaum. Dann sind die Haare ganz glatt, ganz schütter, ganz strähnig wie bei einem spitzknochigen Schulmädchen. Aber schon streift der warme Föhn über das

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