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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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kleine Weile später ergoß sich dann die ganze Schar strahlenförmig über das Plateau des Berges, verteilte sich zwischen den Felsen der Steilseite und wagte sich sogar in die grünen Lücken der Talseite, die der große Brand übersprungen hatte. Die Kinder liefen mit, darunter auch Drei- und Vierjährige, die den Müttern immer wieder zwischen die Beine gerieten und die Arbeit hemmten. Ja, hätte man wie früher über den Nordsattel hinausgehen können, dann wäre noch Hoffnung vorhanden gewesen, irgendwelche nahrhafte Überraschungen anzutreffen. Das Revier innerhalb der Verteidigungsgrenzen aber war ausgesogen und abgenagt wie der Beuteknochen eines wilden Hundes. Ein Teil der Frauen durchstreifte zum hunderstenmal die Arbutus- und die Heidelbeerplätze, um das Überbleibsel früherer Pirschgänge aus dem Gedörn zu raufen. Andre versuchten auf den Felswänden jene seltenen Stellen zu erklettern, wo der Feigenkaktus wuchs, dessen große fleischige Früchte als höchste Kostbarkeit galten. Aber was half das? Alle Gedanken schrien nach Fett und Mehl, nach einem Stückchen Schafbutter, nach einem Bissen Käse. Was man auch hinunterschlang, das betäubte zwar im Augenblick den Magen, nicht aber das phantasierende Verlangen nach Fett und Brot. Der Kaffee und Zucker des Agha, von dem jeder ein wenig zu schmecken bekommen hatte, die zähen Portionen grob-trockenen Eselfleischs in den letzten Tagen (der Zwieback der Schwimmer fiel nicht ins Gewicht), dies alles war eine Ursache mehr, daß sich angesichts des absoluten Hungers das Verlangen zur krankhaften Raserei steigerte.
    Auf Pastor Arams Fischfang lag kein Segen. Mangels der richtigen Behelfe war es unmöglich, ein in der Brandung haltbares Floß zu zimmern, und auch die Netze hatten sich als wertlos erwiesen. Ebensowenig aber lachte den Vogelstellern ein Erfolg, obgleich ihre Lockgabeln und Klappnetze den Anforderungen entsprachen. Hier aber blieben die Vögel aus, welche ihre nördlichen Sommerfrischen noch nicht verlassen hatten; Wachteln, Schnepfen, Wildtauben jedoch gingen so kindlichen Künsten nicht in die Falle. Allein es gab noch Kräfte wie Nunik, Wartuk, Manuschak und die Ihren. Die waren seit undenklichen Zeiten schon gewohnt, von der Erde in den Mund zu leben. Unten im Tal und oben auf dem Damlajik war seit siebenunddreißig Tagen nicht einmal mehr der Abfall für sie abgefallen. Nunik erbarmte sich der armen Weiber. Die Friedhofsleute hatten immer jenseits des Volkes gehaust und ihren Ausschluß aus der Gemeinschaft als naturgegeben hingenommen. Daß Klageweiber, Bettler, Blinde, Krüppel, Sieche, Verrückte nicht unter den Lebendigen zu wohnen haben, daran zweifelte keiner von ihnen und sie nährten daher auch keinen rachsüchtigen Haß gegen ihre Volksgenossen, die ihr lichteres Dasein mit härterer Arbeit bezahlen mußten. Die Klageweiber gar, die die Toten bejammerten und die Gebärenden vor den bösen Geistern schützten, fühlten sich trotz allem als Persönlichkeiten von notwendigem Wert und unbestrittener Würde. Sie halfen ja den Generationen in diese Welt herein und aus dieser Welt hinaus. In ihren magischen Handhabungen verwalteten sie gewissermaßen jene wichtigen Geheimmittel des Seelenheils, welche Ter Haigasun und die Kirche nicht anwenden durften. Brot und Fett aber konnte selbst eine Nunik nicht herbeizaubern. Doch sie half nun den hungernden Frauen, indem sie eine ihrer eigenen Nahrungsquellen preisgab. Ein unglaubwürdiges Bild wars, als diese Alte, an deren Hundertjährigkeit gläubige Gemüter nicht zweifelten, sich mühelos auf eine der Felswände herabließ, mit ihren dürrbraunen Füßen prüfend Halt suchte und sicheren Griffs weiterturnte, um alsbald in einer Spalte zu verschwinden. Nur drei Mädchen wagten es, Nunik diese Kletterei nachzumachen. Die andern Frauen schauten ihr ratlos zu. Doch auch die jungen Geschöpfe kamen kaum vom Fleck, klammerten sich krampfhaft an die Felsgewächse, ihre Füße zitterten bei jedem Tritt und der Münzenschmuck machte ein Angstgeklingel. Freilich, der aufgewandte Mut schien sich lohnen zu wollen. In der Felsspalte hatte Nunik einen Brutplatz von Möwen und anderen Meervögeln entdeckt und verraten. Die Frauen konnten ein paar Körbe voll kleiner Möweneier nach Hause bringen. Doch auf tausend Familien verteilt, bedeuteten sie nur eine kaum sichtbare Zubuße zum Nichts.
     
    Während die verzweifelte Expedition der Weiber im Gange war, tagte der Führerrat. Noch ahnten die Männer nicht,

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