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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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daß sie das letztemal in der Regierungsbaracke zusammensaßen. Vor dem verlassenen Sterbelager Krikors von Yoghonoluk stand unverändert die Bücherwand, die der Apotheker zwischen sich und der Welt errichtet hatte. Die Bücher schienen ihrem Herrn nachgestorben zu sein, so erfroren standen sie da, wie durch Leichenstarre zu abwehrenden Quadern versteift. Doch nicht nur die Bücher waren vom Tode berührt. Auch Ter Haigasuns wachsfarbiges Antlitz sah aus, als sei es seine eigene Totenmaske. Er zählte mit seinen scheuen und unzugänglichen Priesteraugen die Versammelten ab. Alle waren da bis auf den Toten und Hrand Oskanian, der es nicht gewagt hatte, das Verbot Ter Haigasuns zu mißachten. Doch der zwirnsdünne Asajan saß da, sein Freund, der alte Feind und Hasser Ter Haigasuns. Der Schweiger hatte den Kirchensänger bis vor einer halben Stunde noch mit all seiner zänkischen Eindringlichkeit bearbeitet, er möge ihn rächen, die Führer durcheinanderbringen und die Gegensätze immer wieder verschärfen. Asajan war jedenfalls bereit, seinem alten Quälgeist in Kirche und Schule auch heute noch jeglichen Tort anzutun. Als letzter trat Bedros Hekim in die Runde. Auf seinen morschen Beinen, die immer krummer wurden, wackelte er zu den Büchern und warf einen langen Blick in die leere Koje. Dann erst drehte er sich zur Versammlung um:
    »Laßt uns des Apothekers gedenken! Er war ein verrückter Bursche, weiß Gott, aber ein Mann wie Krikor kommt nicht wieder zur Welt …«
    Das war eine im Ton recht grobe Totenrede, doch dem Redner selbst ging sie nahe, denn er seufzte plötzlich tief auf. Ter Haigasun faltete die Hände:
    »Der Arzt hat recht. Laßt uns einen Augenblick Krikors gedenken. Er hat das Ende nicht abgewartet. Gott wird seiner Seele gnädig sein.«
    Auch die anderen falteten die Hände und versanken in sich. Bei den meisten wars nur eine Förmlichkeit. Gabriel Bagradian aber senkte den Kopf sehr tief, um sein Gesicht nicht zeigen zu müssen, das freilich nicht Krikors wegen verzerrt war. Nach dieser flüchtigen Gedächtnisfeier erteilte Ter Haigasun sofort dem Pastor Aram das Wort. Die heutigen Beratungen und ihr unglücklicher Ausgang waren durch die Spannung vorherbestimmt, die zwischen Aram Tomasian und Gabriel Bagradian herrschte. Der Pastor hatte Gabriel noch immer nicht zur Rede gestellt. Vor seinem eigenen Gewissen führte er eine Menge Gründe ins Treffen, um seine Zaghaftigkeit zu rechtfertigen. Seit einigen Tagen schon lebte er ununterbrochen unten an der Küste, in vergeblicher Erwartung des Fischerglücks. Ganz selten nur kam er ins Lager hinauf, wenn ihn Ter Haigasun rufen ließ. Dies war die äußere Ausrede vor sich selbst. Ferner hatte Bedros Hekim seine Frau zur vollen Pflege abgeordnet, wodurch die ärgste Schande für Iskuhi abgewendet war. Auch Bagradian lebte wieder in der Nordstellung und Zeugen berichteten, daß er den Dreizeltplatz überhaupt nicht mehr betrat. Mit solchen Feststellungen, die sich noch vermehren ließen, beruhigte der Pastor seine Seele oberflächlich. Im Grunde aber kannte er die Wahrheit über seine Gefühle genau. Er litt an einer unüberwindlichen Scheu, mit Bagradian darüber zu sprechen. Es war eine aus Keuschheit, Achtung und Widerwillen quälend gemischte Empfindung. Und dann, Aram liebte Iskuhi; jetzt, da er ihr aus dem Wege ging, da Howsannah seine Schwester in zügellosen Ausbrüchen verfemte, jetzt liebte er sie doppelt. Immer wieder klangen ihm ihre Worte in den Ohren: »Ich bin neunzehn alt und werde keine zwanzig werden.« Tomasian wollte den Konflikt nicht auf die Spitze treiben. Er wußte, daß Iskuhi zu allem entschlossen war, auch zum vollständigen Bruch mit der Familie; das hatte sie dem Vater offen gesagt, als er sie beschworen hatte, den Dreizeltplatz zu verlassen. Wozu diese Qual noch, dachte Tomasian. Die Tage schleppen sich hin und einer der nächsten wird der letzte sein. Und eins noch: Iskuhi hatte nie gelogen und auch jetzt log sie nicht, wenn sie sagte: »Zwischen mir und Gabriel Bagradian ist nichts vorgegangen.« Die große Sünde war also nicht geschehen. Vielleicht aber wird Gott einen ganz neuen, ganz unerwarteten Weg weisen, der alles verwandelt. Um die Erkenntnis dieses Weges oder Ausweges rang Pastor Aram in seinem täglichen Gebet. Er glaubte auch schon, ihm auf der Spur zu sein.
    Die erste Begegnung mit Gabriel Bagradian hatte Aram mit Verlegenheit und Erbitterung erfüllt. Er konnte sich kein einziges Wort der Teilnahme

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