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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Erwähnung des Dreizeltplatzes immer peinlich an die Seele. Andrerseits aber bot sich jetzt die gute Gelegenheit, all diesen hochmütigen und hartgesottenen Burschen hier zu zeigen, wer man war, einer von den Notabeln, ein geschultes Mitglied der höheren Welt, ein gewählter Volksführer. Oskanians Ton hielt zwischen Geringschätzung und Protzerei die Mitte:
    »Nur Kisten? Kisten sind das wenigste! Sie haben große Schränke und sie haben Koffer, die wie Schränke sind. Darin hängen so viele Frauengewänder, wie der reichste Pascha sie gar nicht zusammenträumen kann. Und jedes ist anders. Denn sie trägt nicht nur jeden Tag, sondern dreimal täglich ein anderes Kleid. Am Morgen sind es weite Gewänder, rosafarben oder himmelblau. Die sehen aus wie feine Tscharschaffs ohne Schleier. Die Mittagskleider sind sehr knapp und lassen die Füße sehn, die nicht dreimal, sondern sechsmal täglich andre Schuhe tragen. Dies alles aber ist noch gar nichts gegen die Gewänder des Abends …«
    Der Langhaarige zergähnte die Aufzählung, in deren begeisterte Wehmut sich die dichterische Gabe Lehrer Oskanians verirrt hatte:
    »Was gehn mich die Gewänder an? Ich will wissen, was sie dort für Proviant aufheben?«
    Oskanian warf den Kopf zurück, der durch den krausen Bart und das stachlige Haar so dicht verwachsen war, daß nur ein kleiner gelblicher Gesichtsfleck hervorlugte:
    »Das kann ich euch genau sagen. Niemand weiß das besser als ich. Denn mich rief die Hanum unten in der Villa zu Hilfe, als all diese Sachen ausgewählt und eingepackt wurden. Da haben sie ganze Türme von silbernen Dosen, in denen Fische in Öl liegen. Sie haben süßes Brot und Backwerk und Schokolade. Sie haben viele Krüge mit Wein. Sie haben amerikanisches Räucherfleisch und ganze Eimer mit Grieß und Haferflocken …«
    Bei den Haferflocken hielt Oskanian inne. Plötzlich überkam ihn eine sehr ekelhafte Empfindung. Es war ein lichter Moment, in dem ihm die ganze verbohrte Niedertracht bewußt wurde, deren er sich seit seiner Liebesenttäuschung hemmungslos befleißigte. Seine niedrige Stirn begann zu schwitzen. Er schlug sich trist aufs Knie:
    »Schluß machen … Schluß machen …«
    Sarkis Kilikian aber meinte recht einsilbig und mürrisch:
    »Werden wir auch … morgen abend …«
    Bei diesen schläfrig hingeworfenen Worten wurden die Hände des kleinen Lehrers eiskalt. Und sie wurden durchaus nicht wärmer, als Kilikian in vier gleichgültig knappen Sätzen seine Absichten verriet. Oskanians kugelrunde Augen hingen so starr an dem Gesicht des Russen, als vermöchte er mit dem Gehör allein nicht aufzunehmen, was unter der Besatzung der Südbastion schon lange abgekartet worden war. Sarkis Kilikian, die Deserteure und einige andre Männer noch, die unter ihrem Einfluß standen, hatten genug vom Damlajik. Sie wollten morgen in den ersten Nachtstunden ausrücken. Ein schändlicher Verrat an der Volksgemeinschaft! Vielleicht fühlte Kilikian als einziger etwas davon. Bei den andern aber war durch ein vielmonatiges Wolfsleben der Idealismus aufgebraucht, an dem Gewissensbisse Nahrung finden. Mit der unbelehrbarsten Naivität sahen sie in den Verteidigungsgrenzen des Musa Dagh nicht ein strenges Kriegslager, dem sie zu getreuem Ausharren verpflichtet waren, sondern eine Herberge, deren Mietzins sie durch einen fast vierzigtägigen Waffendienst hoch bezahlt hatten. Jetzt brach gewissermaßen der Hunger den Vertrag, da bis auf einen widerlichen Knochenhaufen der Südbastion seit Tagen von den Herbergsleuten keine Nahrung geliefert worden war. Sollten sie wirklich langsam verhungern, nur um den Türken in die Hand zu fallen? Was ging sie das Volk der sieben Dörfer an? Nur eine kleine Minderheit stammte aus dem armenischen Tal. Sie hatten schließlich auch vor der Besitzergreifung des Musa Dagh durch Ter Haigasun und Gabriel Bagradian auf den Gebirgen des Landes gelebt und sich ernährt, so gut oder so schlecht es ging. Keiner von ihnen dachte daran, das Schicksal der Fünftausend zu teilen. Wozu auch? Sie konnten sehr leicht ihr Leben retten. Für sie würde einfach wieder der Zustand vor den vierzig Tagen eintreten. Jenseits des Orontes, im Süden, erstreckte sich der kahle weitläufige Dschebel el Akra bis gegen Latakijeh hin. Dieser Dschebel el Akra war nicht quellenreich und grün wie der Musa Dagh, sondern nackt, zerrissen, unwegsam und somit der idealste Aufenthalt für flüchtige Deserteure. Ein ganz einfacher Plan: Nachts wollten sie,

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