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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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schon ein, ehe ihn die Fluten überborden, und dann zumeist an einer unerwarteten Stelle.
    Im Umkreis der Südbastion gab es, gegen die Meerseite hin gelegen, eine breite, mit verdorrtem Schafgras bewachsene Fläche. Dort hatten sich Sarkis Kilikian und der umsichtige Kommissär dieses Verteidigungsabschnittes, Hrand Oskanian, gelagert. Ein paar Schritte abseits von ihnen spielte der Langhaarige mit zwei anderen Deserteuren dunkler Herkunft ein Muschelspiel, die verschiedenen Wendungen der Partie mit melodischen Ausrufen in allen Sprachen Syriens begleitend. Der Lehrer versuchte nicht nur dem Russen mit großen Worten gewaltig zu imponieren, sondern sprach so laut und nachdrücklich, daß auch die verlotterten Spieler einiges von seinen verwegenen Ansichten abbekommen mußten. Den aufgeregten Versuchen des kleinen Mannes aber setzte Kilikian, lang ausgestreckt und Krikors kalten Tschibuk im Mund, ein beharrlich taubes Schweigen entgegen:
    »Du bist ein gebildeter, ein studierter Mensch, Kilikian«, eiferte der kraushaarige Lehrer, »also wirst du mich verstehn. Immer habe ich geschwiegen, weißt du, meine Gedanken waren mir zu gut. Nicht einmal zu dem Apotheker, der viele meiner Ansichten und Meinungen übernommen hat, hab ich darüber geredet. Du kennst das Leben, Kilikian, dich hat es umhergeworfen wie keinen. Siehst du, auch mich, wenn du vielleicht auch glauben wirst, Hrand Oskanian ist sein Lebtag nichts andres gewesen als ein lächerlicher Lehrer in einem schmutzigen Dorf. Du weißt ja nichts von ihm. Er hat seine Idee! Und willst du sie hören? Schluß machen, verstehst du das, Schluß machen! Denn wozu alles andre?«
    Sarkis Kilikian stützte sich auf und zerkrümelte in seiner Hand einen Rest des geschenkten Tabaks. Während alle andern den reinen blonden Tabak mit getrocknetem Laub vermischten, rauchte ihn der Russe ungemengt, ohne darauf zu achten, daß sein Anteil dadurch doppelt so schnell zu Ende ging. An dem Schweiger Kilikian hatte der ehemalige Schweiger Oskanian seinen Meister gefunden. Das Schweigen des Russen hätte einen Baum entblättern können. Dem Lehrer aber entlockte es einen prahlerischen Wortschwall, auf dem unverdaute und entwürdigte Geistesbrocken Krikors schwammen:
    »Also du verstehst mich, Kilikian, wie ich dich verstehe, da brauchst du erst gar nichts zu reden. Wie du, glaube ich, daß es keinen Gott gibt. Warum sollte es auch solch einen Blödsinn geben? Die Welt ist ein dreckiger Klumpen, der herumfliegt. Lauter Chemie und Astronomie, sonst nichts. Ich werde dir ein Sternbuch des Apothekers zeigen. Da kannst du das alles auf Bildern sehn. Nichts als Natur. Wenn sie jemand gemacht hat, so wars der Teufel. Ein Schwein ist sie, ein unreines. Das Letzte aber kann sie uns nicht nehmen, Kilikian, du verstehst mich. Du kannst ihr ins Gesicht spucken, du kannst sie entehren, du kannst ihr den Stärkeren zeigen, du kannst aus ihr austreten. Siehst du, und das ist meine Idee! Ich, Hrand Oskanian, der ich klein bin, werde die Natur, den Teufel und den Herrgott zurechtweisen, strafen, ärgern. Giften sollen sie sich, die Herrschaften, über den Lehrer Oskanian, gegen den sie ohnmächtig sind, du verstehst mich. Ich habe schon Leute gefunden, die meine Idee verstehn. Nachts besuche ich die Hütten, haha, da kann Ter Haigasun nichts dagegen tun … Hast du dabei zugesehen, wenn der blöde Kework die Toten vom Felsen ins Meer wirft? Wie weiße Vögel fliegen sie davon. Das ist meine Idee. So wollen wir davonfliegen, du und ich und andre noch, ehe wir unfreiwillig krepiert sind. Ein kleiner Schritt und du weißt nichts mehr, ehe du noch das Wasser berührt hast. Du verstehst mich? Dann aber lösen wir uns im Meer auf. Das haben wir frei gewählt und die Natur, der Teufel, die Türken und alle andern Halunken werden vor Wut zerplatzen, weil wir sie gezüchtigt haben, weil sie die Schwächeren geblieben sind. Du verstehst mich, Kilikian …«
    Sarkis Kilikian lag längst wieder auf dem Rücken. Sein lethargischer Totenkopf starrte in das rasch ziehende Gewölk des Himmels. Nichts wies darauf hin, daß er dem Selbstmordhymnus Oskanians zugehört hatte. Der Langhaarige hingegen unterbrach das Spiel und äugte aufmerksam nach dem tückischen Besieger der Natur hin, als verstehe er die »Idee« und finde sie gar nicht so übel. Dann schob er sich etwas näher:
    »Haben die bei den drei Zelten viele Kisten?«
    Der Lehrer stutzte betroffen. Er hatte schmachvoll ins Leere geredet. Auch griff ihm die

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