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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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jetzt nur dadurch beweisen können, wenn er den Deserteuren im Galopp durchgegangen wäre. Doch Oskanian rührte sich nicht, um das Volkslager zu warnen. Mit gespitztem Mund stand er da und wiegte den Kopf. Kilikian und die andern konnten das für ein Zeichen der Bewunderung halten. Im Hirn des Lehrers flatterte der Gedanke der Warnung wie ein verfangener Vogel. Doch immer wieder stand die eitle Furcht dagegen, Kilikian und die andern Gesellen könnten ihn für einen Weichling halten und nicht für einen verfluchten Kerl unter verfluchten Kerlen. Da aber geschah es, daß gegen seinen Willen ein undeutlicher, aber abgründig hochverräterischer Hinweis ihm über die Lippen kam:
    »Für morgen am Spätnachmittag hat Ter Haigasun einen außerordentlichen Bittgottesdienst angesetzt. Die Zehnerschaften aber bleiben in den Stellungen …«
    Dabei zwinkerte er die Deserteure trübe und liebedienerisch an. In diesem Blick lebte nicht einmal mehr der widerlich überhebliche Kauz, sondern nur ein gebrochener Feigling. Einer der Spießgesellen aber beantwortete Oskians Selbsterniedrigung in gebührlicher Form: »Damit du dein Maul hältst, Lehrer, wirst du dich heute und morgen von hier nicht fortrühren.«
    Die Deserteure stießen ihren Regierungskommissär grob vor sich her, obgleich das gar nicht nötig war, denn er trabte als freiwilliger Gefangener ohne Fluchtgedanken mit. Und man ließ ihn tatsächlich keine Sekunde lang aus den Augen. Er saß trübsinnig auf einem der Beobachtungspunkte und stierte auf das schmale Straßenband tief unten hinab, das von Antakje nach Suedja führt. Der Haß gegen Gabriel, Juliette, Ter Haigasun flackerte mit einem Mal sehr bescheiden in seinem schreckerfüllten Herzen. Er wünschte sehnlichst einen Angriff der Türken herbei. Diese jedoch schienen gar nicht daran zu denken, sich auf dem offenen Steinhang noch einmal blutige Köpfe zu holen. Die Straße in der Orontesebene war friedlich belebt. Man konnte nicht eine einzige Abteilung von Soldaten oder Saptiehs unterscheiden. Ochsenwagen, Packesel und sogar ein paar Kamele zogen langsam ihres Weges zum Wochenmarkt nach Suedja, als lebe kein einziger Armenier-Sohn mehr auf dem Musa Dagh. Nur bei Jedidje am Fuß der Vorberge erhob sich plötzlich eine Staubwolke. Als sie sich verzog, konnte man ein kleines graues Militärauto erkennen.
     
    Nun war er da, der vierzigste Tag auf dem Musa Dagh, der achte des Septembermonats und der dritte des uneingeschränkten Hungers. Die Frauen hatten sich heute die Mühe erspart, auf die Suche nach leerem Grünzeug zu gehn, um daraus eine bitterschmeckende Brühe zu bereiten. Das blanke Quellwasser tat denselben Dienst. Und wenn man dazu irgend etwas knabberte, ein fettes grünes Rohr, eine geschälte Wurzel, dann waren auch die Kauwerkzeuge beschäftigt. Alles, was noch auf den Beinen stehn konnte, hatte sich an den verschiedenen Quell-Läufen gelagert, alte Männer, Mütter, Mädchen, Kinder. Es war ein sonderbarer Anblick, wenn sich immer wieder eines der todesmatten Gesichter zu den Wassersträhnen hinabbeugte, um ohne Durst aus der hohlen Hand zu trinken, als sei dies strenge Pflicht. Verwunderlich genug, daß diese Nährquellen der Erde nach so vielen regenlosen Wochen, nach solchem tausendmündigen Verbrauch noch immer nicht versiegt waren. Nun hatten sich die Menschen zu ihnen geschleppt und fingen das Leben nur mehr mit Händen und Lippen auf, ohne es in Krügen und Eimern nach Hause zu tragen.
    Es kann aber nicht geleugnet werden, daß sich die Hungernden an diesem dritten absoluten Fasttage im allgemeinen wohler fühlten als in der vorhergehenden Zeit. Der Krampf in den Därmen, der Druck auf dem Zwerchfell war einer empfindungslosen Leichtigkeit gewichen. Manche lagen tiefatmend ausgestreckt und spürten ihr eigenes Selbst wie porösen Gips, der an der Luft erstarrt. Andre wieder träumten beglückt vor sich hin. Sie wähnten, ein Flügelkleid wachse allmählich aus ihrer Haut, und wenn sie nur wollten, dann vermöchten sie bald den ersten seligen Flugversuch zu wagen. Es gab auch nicht wenige, die, von einer verschlagenen Heiterkeit erfaßt, lange Geschichten aus ihrem früheren Leben erzählten, kernlose Anekdoten von Haus und Handwerk, von Bienen und Raupen, von Reben und Holz, wobei sie selbst ihre fleißigsten Lacher waren. Über allem aber lag ein Schleier von sanfter Langsamkeit. Die kleinen Kinder schliefen fest, die größeren machten keinen Lärm und selbst die Jugendkohorte zeigte,

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