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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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den Gottesdienst und die Volksversammlung erst abzuwarten. Tomasian schien nur noch auf der Suche nach Kework zu sein, um dann sogleich mit den Seinen in das sichere Nichts aufzubrechen.
    Wäre Pastor Aram in dieser Stunde er selbst gewesen, mild, evangelisch, liebevoll, der starke frohe Bruder von Zeitun, Iskuhi hätte sich vielleicht nicht lange geweigert, mit ihm zu gehn. Warum auch sollte sie in diesem verlassenen Zelt bleiben? Sie wußte, daß ihre Füße sie nicht mehr weit tragen konnten. Dann würde irgendwo auf sanfte Weise alles zu Ende sein, das Ohrensausen, Gabriel, sie selbst. Statt des liebevollen Bruders von Zeitun jedoch stand ein unbekannter Gewaltmensch im Zelt, der mit dem Stock zu fuchteln begann:
    »Steh auf! Mach dich fertig! Du kommst mit!«
    Diese bösen Worte wälzten sich wie Felsen auf Iskuhi. Steif ausgestreckt, starrte sie diesen fremden Aram an. Jetzt konnte sie sich nicht mehr rühren, selbst wenn sie hätte gehorchen wollen. Tomasian faßte seinen Stock fester:
    »Hörst du nicht? Ich befehle dir, daß du sofort aufstehst und dich fertig machst. Als dein älterer Bruder und als dein geistlicher Vater befehl ichs. Hast du verstanden? Ich will doch sehn, ob ich dich nicht der Sünde entreißen kann!«
    Bis zu dem Wort »Sünde« war alles Erstarrung gewesen. Die »Sünde« aber weckte hundert Quellen zornigen Widerstandes in Iskuhi. Alle Schwäche fiel von ihr ab. Sie sprang auf. Hinter den Bettrahmen sich zurückziehend, ballte sie ihre kleine rechte Faust wie zur Verteidigung. Doch ein neuer Feind lugte jetzt ins Zelt, Howsannah:
    »Laß sie doch, Pastor, gib sie auf! Sie ist eine Verlorene. Ich bitte dich, komm ihr nicht zu nahe, sonst wird sie dich anstecken. Laß sie! Wenn sie mit uns geht, wird uns der Herr nur noch mehr strafen. Es hat keinen Zweck. Komm, Pastor! Immer hab ich es gewußt, was für eine sie ist. Du aber warst närrisch mit ihr. Schon in der Schule von Zeitun hat sie sich mit den jungen Lehrern abgeschmiert, die Männertolle! Laß sie, ich bitte dich, und komm!«
    Iskuhis Augen wuchsen immer fassungsloser. Sie hatte seit Juliettens Erkrankung Howsannah nicht mehr gesehn und ahnte nicht, daß sie eine völlig Besessene vor sich hatte. Die junge Pastorin war auf schreckliche Weise verändert. Um Gott durch ein Opfer zu versöhnen, hatte sie sich das schöne Haar ganz kurz abgeschoren. Ihr Kopf wirkte nun winzig klein und hexenhaft böse. Alles an ihr war abgezehrt und verschrumpft, nur der Leib wölbte sich vor, eine krankhafte Folge der Niederkunft. Jetzt streckte Howsannah mit einer unbeschreiblichen Gebärde der Anklage das Bündel mit dem Säugling der Schwägerin entgegen und kreischte:
    »Sieh her! Nur du bist schuld an diesem Unglück!«
    Da kam der erste Laut von Iskuhis Lippen: »Jesus Maria!« Ihr Kopf sank auf die Brust. Sie gedachte der schweren Stunde Howsannahs, da sie mit ihrem Rücken die Gebärende gestützt hatte. Was wollten diese tollen Menschen von ihr? Warum gab man ihr in den allerletzten Stunden ihres Lebens nicht Frieden? Der Pastor hatte indessen seine plumpe Silberuhr gezogen und ließ sie an der Kette pendeln:
    »Zehn Minuten gebe ich dir Zeit, damit du dich bereitmachen kannst.«
    Dann drehte er sich zu Howsannah um:
    »Nein, du! Sie kommt mit. Ich lasse sie nicht! Vor Gott muß ich Rede stehn für sie …«
    Iskuhi stand immer noch hinter dem Bett, ohne sich zu rühren. Aram Tomasian aber wartete die Zeit nicht ab, sondern ging schon nach drei Minuten hinaus. Die plumpe Uhr pendelte noch immer an seiner Faust. Draußen auf dem Dreizeltplatz war es inzwischen sonderbar laut geworden.
     
    Wie auf Katzensohlen waren die dreiundzwanzig Männer aufgetaucht, die sich jetzt in dem Raum zwischen dem Scheich- und dem Krankenzelt bewegten. Der langhaarige Deserteur schien nach seinem ganzen Benehmen der Anführer zu sein. Spielte sich diese bedenkliche Erscheinung als Kommandant der unerwarteten Kömmlinge auf, so hatte Sato, als vierundzwanzigste im Bunde, zweifellos die Rolle einer Pfadfinderin inne. Sie rieb sich unschuldig mit ihrem Ärmel die Nase, als wollte sie den Eindruck erwecken, daß ihre kindliche Wenigkeit den Zweck dieser unangesagten Unternehmung nicht kenne und verstehe. Ein dienstlicher Auftrag wahrscheinlich. Doch weder Kilikian noch auch sein famoser Kontrollmeister waren zugegen. Es herrschte jene tückisch geladene Verlegenheit, wie sie so oft einem Verbrechen vorauszugehn pflegt. Der Anblick der Deserteure bot anfangs

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