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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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der fanatischen Rechten des Küsters aber jammerte das Glöckchen weit hinaus, als sollten nicht nur die türkischen Kompagnien, sondern Land und Meer wissen, daß hier die Sterbestunde eines christlichen Volkes eingeläutet werde. In der linken Hand schwang der Küster nicht minder wild das Räucherfaß. Auf dem Damlajik, wo es keine irdische Nahrung mehr gab, war der Weihrauch in solcher Menge vorhanden, daß man damit noch Monate lang hätte auskommen können. Zur angesetzten Stunde der Bittfeier, die übrigens schon überschritten war, ließ der Südostwind nicht im geringsten nach. Wie Gottlose, die eine Religionsstörung verüben wollen, fegten die Windwürfe über den Platz, schluckten den Glockenlaut, verbissen sich knurrend ins Dachgeflecht der Laubhütten und rüttelten am Altar, dessen Bekleidung für diesen Fall besonders befestigt war. Die starke, vier Meter hohe Blätterwand hinter der heiligen Stätte wurde zum preisgegebenen Windfang. Sie bebte unter den Sturmhieben, das welke Laub wirbelte auf und die ganze große Wand schwankte oft so bedenklich, als werde sie nicht standhalten. Vor dem Altartisch, auf der obersten Stufe waren zwei Stangen rechts und links mit einer Querschnur angebracht, auf der der Vorhang in Ringen lief, der während der Opferung den Priester nach armenischem Brauch den Blicken der Gemeinde entziehen mußte. Der schwere Stoff dieses Vorhangs wehte immer wieder gegen den geweihten Tisch. Man band ihn fest, damit er die heiligen Geräte nicht vom Altar werfe. Einige Fromme hatten ihr wachsames Auge auf diese Geräte gerichtet, besonders auf die hohen silbernen Leuchter, in denen von Glasschirmen geschützte Windlichter brannten. Zwischen den einzelnen Windstößen waren lange Pausen einer beklemmenden Stille eingeschaltet. In diese Stille knallte dann und wann ein Schuß vom Nordsattel herüber.
    Ter Haigasun hatte in seiner Pfarrhütte, die dicht neben der Regierungsbaracke lag, längst schon die Meßgewänder angelegt. Die Sänger und die Diakone, die ihm assistieren sollten, warteten bereits eine gute Weile vor dem Eingang. Eine tiefe Beklommenheit aber hielt ihn zurück, hinaus und an den Altar zu treten. Was war das? Sein Herz, das niemals aus dem Gleichgewicht kam, schlug laut ans Priesterkleid. Fürchtete er das Unbekannte, das nahe bevorstand? Zweifelte er, ob er richtig gehandelt hatte, im Augenblick der höchsten Not das Volk selbst aufzurufen? Hatte er damit nicht in listiger Schwäche die Entscheidung von seiner eigenen Person abgewälzt und den Unmündigen eine Aufgabe zugemutet, der sie nicht gewachsen waren? Nun, die Kämpfer standen alle hinter Gabriel Bagradian und Ter Haigasun glaubte nicht, daß der Pastor für seinen Antrag auch nur einen kleinen Bruchteil von Anhängern finden werde. Und doch! Bestand nicht Gefahr, daß sofort nach der feierlichen Gnadenerflehung Verwirrung, Zank, Zerfall durch Tomasians Antrag in die hungernde Menge geworfen werde? Vielleicht fühlte Ter Haigasun nur den niederschmetternden Ernst der Sendung, zu der er gewürdigt und verdammt war. Trotz des heißen Windes fror er. Sein Kopf schien zu wachsen, immer größer und dünnwandiger zu werden wie ein Ballon, den man aufbläst. Auch er hatte seit zwei Tagen fast nichts mehr genossen. Er saß auf der Matte, die sein Schlaflager war. Auf den Knien hielt er das große Kirchenbuch aufgeschlagen. Den ganzen Nachmittag lang hatte er Eintragungen gemacht und die Summe dieser vierzig Tage gezogen. Jetzt war das Buch des Lebens und des Todes, so weit es in seiner Macht stand, in Ordnung gebracht und die Rechnung abgeschlossen. Er hatte seine Pflicht getan und konnte das Kirchenbuch übergeben. Wem übergeben? Ter Haigasun schüttelte den Kopf. Und doch, es lag eine große Befriedigung darin, daß die Seelen der Lebendigen und der Abgeschiedenen namentlich verzeichnet standen und daß die göttlich-menschliche Ordnung von ihm bis zu dieser Stunde aufrecht erhalten wurde. Dadurch, daß jede verewigte Seele mit Geburts- und Todestag, mit Namen und Herkunft der Eltern hier sauber eingeschrieben war, konnte sich Gott ihrer leichter erbarmen und sie brauchte nicht wie ein unbenannter Hund um die Pforten der Hölle zu schweifen. Ter Haigasun glaubte fest an das Heil der Benennung und Einschreibung, in der sich das Heil der Taufe fortsetzt. Seine vergilbten Hände durchblätterten noch einmal die letzten Seiten des Buches. Siebzehn Kinder des Musa Dagh hatte er getauft. Dem standen

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