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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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ihrer geistigen Zerrüttung aber war es, daß der starke Trieb, schön und sauber zu sein, in ihr erloschen zu sein schien. Der Wäschekoffer stand aufgeklappt im Zelt. Aber sie griff weder hinein, noch auch verlangte sie nach frischen Sachen, obgleich das Hemd, das ihr Mairik Antaram am Tage nach dem Fiebersturz angezogen hatte, schon ganz zerknittert war. Juliette schien es gar nicht zu merken, daß an diesem zarten Battisthemd das rechte Achselband zerrissen war und ihre abgemagerte Brust meist bloß lag. Ganz im Gegensatz zu den inneren Wunschbildern, die sie erfüllten, griff sie nicht nach der Flasche mit Eau de printemps, in der noch immer ein Rest darauf wartete, die verdorrte Haut des Körpers neu zu beleben. Nicht einmal in die Pantoffeln schlüpfte sie, die unter ihrem Bett standen, sondern wankte bloßfüßig die wenigen Schritte, zu denen sie die Kraft besaß. In ihren Augen lebte weder Qual noch Angst, nur eine starre zusammengekauerte Bereitschaft, sich gegen jeden zu wehren, der sie ins Leben zurückreißen wollte.
    Schuschik sah in Juliette eine Mutter, die über dem furchtbaren Tod des einzigen Kindes den Verstand verloren hatte. Sie sah in ihr das eigene Los, das ein unermeßliches und unverdientes Gotteswunder von ihr selbst abgewendet hatte. Haik lebte. Und mehr als das. Sein Leben war in alle Ewigkeit gesichert, denn er stand unter dem Schutze Jacksons und Amerikas. Diese Worte bedeuteten im Herzen Schuschiks überirdische Gewalten. Jackson, das war kein Mensch, sondern wahrscheinlich der Erzengel selbst, der den feurigen Säbel schwingt. Ihr war damit von Gott eine Auszeichnung widerfahren wie keiner Mutter des Musa Dagh sonst. Und dies nach einem Leben voll Sünde und Zornigkeit, das ihr der Priester immer warnend vorgehalten hatte. Mußte sie jetzt nicht Tag und Nacht sich abmühen, um zu dienen und zu danken, um zu danken und zu dienen? Wem aber danken, wem aber dienen, wenn nicht ihr, der anderen Mutter, die der volle Fluch getroffen hatte? Diese war eine reiche Hanum, eine Vornehme, eine Fremde. Wie unendlich weit war der Weg von Schuschik zu ihr! Und doch, das fühlte die große Kaukasierin, der Weg konnte nicht so weit sein von der geretteten Mutter zu der verlorenen. Sie holte ihre seit Jahren verrostete Stimme aus sich heraus, machte sie leise und zart und sang beinahe ihre Tröstungen. Es war ja alles so einfach. Diese Welt ist diese Welt, dort drüben aber hat es der Erlöser Jesus Christus so klug eingerichtet, daß man wieder miteinander vereint wird. Zuvörderst jedoch sehen die Mütter ihre Kinder wieder. Was sie jetzt verriet, das wußte sie weder von Nunik noch von einer anderen Totenwäscherin, sondern ihre eigene Mutter hatte es von einem weisen Wartabed gehört, der auf der Klosterinsel Agthamar im Wan-See lebte. Dort oben im Himmel, dort sehen die Mütter ihre Kinder nicht als jene erwachsenen Söhne und Töchter wieder, die sie auf Erden verlassen haben, sondern als wirkliche kleine Kinder, so wie sie einst zwischen zwei und fünf Jahren gewesen sind. Und die guten Mütter dürfen dort oben im Himmel ihre Kleinen wieder auf dem Arm tragen.
    Von dieser Aussicht beglückt, hob das plumpe Weib die Arme und wiegte auf ihnen einen kleinen unsichtbaren Haik. Während solcher Geschichten wurden Juliettens Augen immer abwehrender und schienen zu vereisen. Schuschik glaubte, die Fremde verstehe ihre Sprache nicht. Sie ließ sich neben der Hanum auf dem Boden nieder, überlegend, wie sie sich tröstlich und nützlich erweisen könne. Sie fühlte Juliettens erfrorene Füße an. Mit einem leisen Mitleidston drückte sie diese Füße an die Brust und begann sie mit ihren ledernen Bauernhänden sanft zu streicheln und dann warmzureiben. Juliette schloß die Augen und sank zurück. Schuschik zweifelte nicht daran, die Unglückliche war wahnsinnig. Und sie begriff durchaus diesen Wahnsinn, denn wie weit war sie selbst auf dem gleichen Wege schon gewesen, ehe die erlösende Botschaft sie zurückgerufen hatte. Ihre rauhe Einfalt konnte nicht auf den Verdacht verfallen, daß dieser Wahnsinn gar kein richtiger Wahnsinn war, sondern nur ein aus Körperschwäche, Fiebernachhall, Entsetzen, Bilderflucht und Wahrheitsfurcht zusammengehäufter Wall, hinter dem die Hanum sich vor dem taghellen Wissen verbarg. Im übrigen teilte auch Bedros Hekim die Ansicht Schuschiks und hielt Juliettens Zustand für eine Geisteskrankheit infolge des Fleckfiebers. Ein überraschender Vorfall, der sich am Morgen

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