Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
dieses vierzigsten Tages bei seiner Visite ereignet hatte, gab ihm guten Grund dazu. Der Alte saß am Bettrand und versuchte mit dem besten Französisch, dessen er mächtig war, der erstarrten Seele Hoffnung und Licht zu geben. Alles entwickle sich zum Besten. Der Krieg sei jetzt bestimmt in wenigen Wochen vorüber und die Welt werde Frieden schließen. Madame habe doch sicher vom Besuch des Agha aus Antakje gehört. Nun, dieser alte, einflußreiche türkische Herr hatte deutlich durchblicken lassen, daß Gabriel Bagradian mit Madame werde nach Frankreich zurückkehren dürfen, und zwar in allernächster Zeit schon. Es handle sich daher nur um einige Tage noch und dann beginne ein neues und schöneres Leben für zwei so junge und prächtige Menschen. Seine Herzensgüte verwandelte den allesverneinenden Nörgler in einen erfindungsreichen Märchenerzähler. Selbst der geringschätzig schartige Ton seiner Stimme klang behutsam. Während dieser linden Fabel aber zeigte sich plötzlich Iskuhis Gestalt im Zelt-Eingang. Juliette, die der Dichtung des Arztes die ganze Zeit über mit freundlich abwesenden Augen zu lauschen schien, fuhr beim Anblick Iskuhis zusammen, setzte sich schreckerfüllt auf, zog die Knie hoch und begann zu schreien:
    »Nicht sie … Nicht sie … Sie soll gehn … Ich nehme nichts von ihr … Sie will mich umbringen …«
    Das Sonderbare aber war, daß sich Iskuhi während dieses Wahnsinnsausbruches nicht fortrührte, sondern daß ihr eigenes Gesichtchen sich zu einer Maske des Wahnsinns verzerrte, und daß es aussah, als würde nun auch sie sogleich losschreien. Bedros Hekim sah die beiden Frauen bestürzt an. Grauenhafte Erkenntnisse überfielen ihn. Auch als Iskuhi schon längst wieder verschwunden war, ließ sich Juliette, deren geschwächtes Herz tobte, lange nicht beruhigen.
     
    Was war mit Iskuhi geschehen?
    Seit fünf Tagen hatte sie Gabriel nicht gesehen. Seit zwei Tagen hatte sie keinen Bissen mehr zu sich genommen. Sie hungerte ohne Notwendigkeit, denn Kristaphor hatte, als er die Konserven in die Nordstellung brachte, den Frauen zurückgelassen, was sich noch an Schokoladetafeln und Zwieback vorfand. Doch Iskuhi wollte hungern, und nicht nur weil das ganze Volk hungerte. Fünf Tage lang hatte sie Gabriel nicht gesehn, dafür aber war ihr Bruder Aram zweimal vor ihrem Zelt erschienen, sie aber hatte sich verkrochen und nicht geöffnet. Jeder dieser fünf Tage schlich mit seinen Stunden, die wie Jahre dauerten, unerträglich dahin. Warum kam Gabriel nicht? Iskuhi erwartete sein Kommen in jeder Sekunde des Tages und der Nacht. Sie wäre jetzt, selbst wenn ihr erschöpfter Körper die Kraft dazu besessen hätte, dem Geliebten nicht in die Stellung nachgegangen. Mit jeder Stunde weniger. Sie lag im früheren Tomasianzelt schwer atmend auf ihrem Bett, unfähig ein Glied zu rühren. Ein Ohrensausen, mächtig wie Meeresbrandung, zersprengte ihren Kopf. Und doch, dieses Ohrensausen war nicht mächtig genug, die Stimme der Wahrheit zu lähmen. Wie ein Sterbender mit seinen letzten Augenblicken geizt, so hatte Iskuhi mit den Minuten der Gemeinschaft gegeizt. Und war das etwa nicht in der Ordnung? Wieviel Minuten hatte man auf dem Damlajik zum Verschwenden übrig? Gabriel aber verschwendete nicht nur die unersetzlichen Minuten, sondern ganze unendliche Lebenstage ihrer kurzen Liebe. Verschwendete? Liebe? Grausam holte Iskuhi alles Erlebte aus sich hervor. Ja, Gabriel war zärtlich zu ihr gewesen, das heißt, er streichelte sie, manchmal durfte sie ihre Hand auf seinem nackten Herzen halten und mit ihm weinen. Doch er weinte um Stephan. Und wenn er sein Herz öffnete, so war es Gram und Erbarmen mit der Ehebrecherin, was sich offenbarte. Unerbittlich hing er an dem »Fremden«, wie tiefes ihn auch verraten hatte. Was half es, wenn er Iskuhi »Schwesterchen« nannte und »Heimkehr«. Diese Worte waren für sie keine Liebkosungen mehr, sondern Brandwunden. Immer wieder stieg die zögernde Antwort auf, die Gabriel noch vor Stephans Tod auf ihre sehnsüchtige Fallenfrage gegeben hatte: »Wenn wir uns draußen in der Welt begegnet wären, hättest du in mir die Schwester bemerkt?« Gabriel war wenigstens sehr offen zu ihr. Mit seiner ganzen Haltung sagte er, du bist ein blasses, unwissendes, niedrig-geborenes Ding, das ohne den grausamen Lauf der Dinge niemals würdig gewesen wäre, von mir angeblickt zu werden. Ich danke dir, du kleines Schwesterchen, mit meinen kühlen Händen, mit meinen

Weitere Kostenlose Bücher