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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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brüderlich fernen Küssen dafür, daß du dich so sehr bemühst, meinen Schmerz mit mir zu tragen. Wie aber könntest du das, du armes Armenierkind aus Yoghonoluk? Trotz allem und für immer gehöre ich der Fremden, der Französin. Nicht mit Iskuhi werde ich sterben, sondern mit Juliette. Mag sie mich auch verraten haben, vor Juliette beug ich mich, zu Iskuhi beuge ich mich nur herab.
    Bei diesen Erkenntnissen blieb der Schmerz nicht stehn. Noch schärfer forschte er nach der Wahrheit. Was Gabriel ihr gab, das war nur ein sanftes Entgegennehmen ihres Dienstes, nichts mehr. Wäre es anders, fragte sich Iskuhi, wenn Juliette – was sie im Innersten hundertmal heiß ersehnt – das Fieber nicht überstanden hätte? Und sie erkannte: Nein! Gabriel würde sie dann noch viel weniger lieb haben als jetzt. Ah, wie fühlte diese Kranke das Heimlichste. Iskuhi aber wollte Juliettens Zelt nicht mehr betreten, sie nie nie mehr wiedersehen. Und doch, nicht an Juliette lag die Schuld, sondern einzig und allein an ihr, Iskuhi. Worin aber bestand ihre Unwürdigkeit, geliebt zu werden? Sie war keine Europäerin, sie war nur die Tochter eines armenischen Zimmermanns, ein Dorfmädchen aus Yoghonoluk. Konnte das der tiefste Grund sein? War Gabriel ein Europäer? Stammte er nicht aus demselben armenischen Dorf wie sie? Der ganze Unterschied war, daß sie nur zwei Jahre in Lausanne und er dreiundzwanzig Jahre in Paris gelebt hatte. Das konnte der Grund nicht sein. Wenn er sie ansah, nannte er sie schön. Halt! Hier lag es. Warum sah er sie oft so merkwürdig, so fern an? Etwas an ihr störte ihn und machte ihn kalt. Iskuhi entwand sich ihrer Schwäche und lief zu dem kleinen Spiegel, der auf dem Tischchen stand. Sie mußte aber diesen Spiegel gar nicht in Anspruch nehmen, da sie ja alles wußte. Ein Krüppel war sie, wenn auch nicht als solcher geboren, so doch dazu geschlagen. In dem halben Jahr seit den Verschickungstagen von Zeitun war der linke Arm immer schlimmer geworden. Wenn sie ihm nicht durch eine Schlinge half, hing er abgemagert und verkümmert herab. Doch wie geschickt sie auch war, diese Entstellung zu verbergen, Gabriel kam darüber nicht hinweg, oh, sie wußte es. Einmal hatte er einen leichten Kuß auf diesen Arm gedrückt. Noch jetzt vermeinte sie die mitleidige Selbstüberwindung dieses Kusses zu spüren. Iskuhi fiel wieder aufs Bett. Das Ohrensausen wuchs wie ein Sturm, der alles verschlang. Krampfhaft versuchte sie Gabriels Ausbleiben sachlich zu rechtfertigen: In diesen Tagen hatte wohl der Hunger in den Stellungen alles drunter und drüber geworfen. Bagradian mußte die ganze Verteidigung neu organisieren. Es wurde auch wieder geschossen. Doch diese vernünftigen Erklärungen gewannen nicht die geringste Macht über sie. Hingegen kam ihr auf dem Grunde des Ohrensausens ihre eigene Stimme entgegen, so fremd. Sie hörte das »chanson d’amour«, das sie auf Juliettens Verlangen unten in der Villa Bagradian einmal gesungen hatte, Stephan war dabei gewesen und Gabriel nachher ins Zimmer gekommen. Immer wieder kreisten die ersten Zeilen des alten Volkslieds in ihrem Kopf, zum Wahnsinnigwerden:
    Sie kam aus ihrem Garten
Und hielt an ihre Brust gepreßt
Zwei Früchte des Granatbaums …
Sie gab sie mir, ich nahm sie nicht.
    Weiter kam das Lied nicht. Zugleich aber geschah das Entsetzliche wieder, das sie nun lange schon verschont hatte. Das Gesicht von der Landstraße nach Marasch, die wechselnde Kaleidoskop-Fratze des stoppelbärtigen Mörders war da und bedrängte sie. Plötzlich blieb das Greuelgesicht stecken, als wäre in dem Verwandlungsapparat etwas nicht in Ordnung. Das Steckengebliebene aber wurde auf geheimnisvolle Weise zu Gabriels Gesicht, und noch feindseliger und noch mörderischer als der andre. Iskuhi verlor den Atem vor Angst und Unglück. Stumm flehte sie um Hilfe: Aram …!
    In diesen Minuten war Pastor Aram Tomasian tatsächlich nicht mehr weit vom Zelt seiner Schwester entfernt. Er war mit Howsannah gekommen, die ihr armseliges Kind trug. Als Aram grob Einlaß forderte, antwortete ihm kein Laut. Da zog er kurzerhand sein Messer und zerschnitt die Schnüre, die das Zelt von innen verschlossen. Der Pastor hatte den großen Sack, den er geschultert trug, niedergleiten lassen. Die Frau mit dem fast leblosen Bündel des Säuglings blieb einige Schritte hinter ihm. Der ganze Aufzug sah danach aus, als wollten diese sinnverwirrten Menschen wirklich schon in dieser Stunde den Damlajik verlassen, ohne

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