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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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vierhundertzweiunddreißig Seelen gegenüber, die er zur Jenseitsreise eingesegnet hatte. Eine gewaltige Zahl. Dennoch, wars nicht ein Wunder, daß trotz der türkischen Kompagnien und trotz des Hungers noch immer mehr als viereinhalbtausend am Leben geblieben waren? Und darunter immer noch mehr als siebenhundert wohlgeübte und todesmutige Krieger in allen Stellungen, die vielleicht noch einmal den Ansturm der türkischen Übermacht zurückschlagen würden! Gottes Gnade hatte Gabriel Bagradian nach Yoghonoluk geführt. Ter Haigasun fielen die Lider bleiern über die Augen. Die Viereinhalbtausend lebten nicht mehr. Er sah sich allein unter den Toten in seinen starren Kirchengewändern stehn. Nie hatte er daran gezweifelt, daß er der Letzte sein werde, so grausam das auch war. Sein Herz schlug nun wieder ruhig. Dafür aber erfüllte ihn eine unbeschreibliche Todeserwartung, wie er sie auch in der schlimmsten Minute der Kämpfe bisher nie empfunden hatte. Ohne zu wissen warum, malte er mit seinem dicken Rotstift unter den letzten Toten des Kirchenbuches ein großes Kreuz.
    Einer der beiden Hilfspriester steckte immer wieder den Kopf mahnend zur Pfarrhütte herein. Die angesetzte Zeit war längst verstrichen und es bestand Gefahr, daß die anschließende Volksversammlung bis in die Nacht dauern werde. Ter Haigasun aber konnte sich noch immer nicht losreißen. Ihm wars, als gebe ihn eine innere Macht nicht frei, die den außerordentlichen Bittgottesdienst zu verhindern trachte. Schwindel und Schwachgefühl drohte ihn aufs Lager zu ziehn. Er war krank, verhungert. Sollte er den Gottesdienst absagen oder sich vertreten lassen? Ter Haigasun erkannte, daß es nicht Schwäche war, sondern die Furcht, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein, die heute vor ihm lag. Und noch etwas andres, Unbestimmtes. Endlich erhob er sich und gab das Zeichen. Der Mesnerjunge nahm das Stangenkreuz auf, um es dem Zug voranzutragen. Ter Haigasun folgte den Sängern und Diakonen langsam mit gefalteten Händen und gesenktem Blick. Dieser nach innen geschlagene Priesterblick, welcher an der sich spaltenden Menge teilnahmslos wie an Buschwerk vorbeizog, beobachtete dennoch alles mit überscharfer Klarheit. Ter Haigasun hatte nicht mehr als fünfzig Schritt zum Altar zurückzulegen. Doch bei jedem dieser Schritte durchdrang ihn der Seelenzustand des Volkes ringsum mit schmerzhafter Strahlung. Die Lethargie des Morgens war einer erregten Beweglichkeit gewichen. Die menschliche Natur hatte in dieser Stunde irgendwelche äußerste Reserven oder Scheinkräfte aufgeboten. Vor allem zeigten die kleinen Kinder die tückischeste Ungebärdigkeit. Sie brüllten aus voller Kehle, strampelten und warfen sich zur Erde. Vielleicht waren es die Hungerschmerzen in den kleinen aufgeschwollenen Bäuchen. Die empörten Mütter aber schüttelten und schlugen sie, weil kein andres Beruhigungsmittel half. Da die langen Kreischlaute und das Geschelte sich steigerten, war vorauszusehen, daß die heilige Handlung immerfort gestört und daß Erhebung und Gebetessammlung unmöglich sein werde. Doch nicht nur die Kinder, auch die Erwachsenen benahmen sich zum Teil äußerst unruhig. Da gab es alte Männer – jene bekannten »kleinen Besitzer« zumeist –, die zusammenhanglos aufgeblasene Reden führten, ohne wie sonst ehrfürchtig zu verstummen, da der Priester an ihnen vorbei zum Altar wandelte. Ter Haigasun erkannte daran, daß die innere Auflösung mit dem Hunger Schritt hielt. Es ist gut, überlegte er, daß die Zehnerschaften nicht zu der Versammlung kommen. Solange sie fest bleiben, ist noch nicht alles verloren. Gleichzeitig aber mit diesem beruhigenden Gedanken hob er die Augen und blieb eine Sekunde lang angewurzelt stehn. Was bedeutete das? Hier waren dennoch Bewaffnete erschienen. Einzeln und in losen Gruppen freilich, aber jedenfalls gegen seinen und Gabriel Bagradians ausdrücklichen Willen. Wer hatte diese Leute aus den Stellungen hergeschickt? Da die Frauen, die Schlaffheit der ersten Tageshälfte überwindend, für den Gottesdienst ihre Festgewänder, die bunten Tücher und den blitzenden Münzenschmuck angelegt hatten, verschwanden die braunen Flecke der Krieger in der allgemeinen Farbigkeit. Der nächste Blick aber überzeugte Ter Haigasun, daß sich diesmal nicht etwa die bewährten Kämpfer der nahgelegenen Abschnitte eingefunden hatten, sondern die Deserteure der fernen Südbastion, jene landfremden und an der äußersten Grenze gehaltenen Burschen, welche

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