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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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sterbensmatter Kämpfer, der übermenschliche Kräfte aufwenden mußte, damit der Priester seine Pflicht erfüllen könne. Es war zuvörderst ein Kampf mit dem eigenen Körper, den der zweite Ter Haigasun führte. Dieser Körper sagte bei jedem Wort der Liturgie: Bis hierher und nicht weiter! Merkst du denn nicht, daß ich keinen Tropfen Blut mehr im Kopf habe? Noch ein oder zwei Minuten und ich werde dir die Schande bereiten, hier am Altar zusammenzustürzen. Mit dem Körper allein wäre der Kämpfer leicht fertig geworden. Aber hinter diesem verbargen sich viel tückischere Feinde. Einer von ihnen war ein Taschenspieler, der unablässig alle Geräte vor den Augen des Priesters verwandelte. Die großen Silberleuchter wurden zu aufgepflanzten Bajonetten. Aus den schöngedruckten Seiten des Breviariums sprangen die Namen der Toten des Kirchenbuchs und überall drohte das große Kreuz des Rotstifts. Wenn von Zeit zu Zeit ein Windstoß herüberpfiff, prasselte das Laub an der Altarwand auf und welke Blätter tanzten dann herbei und senkten sich ohne Ehrfurcht auf das Tabernakel und aufs Evangelium mit dem goldenen Kreuz im Deckel. Überall lagen schon diese verdorrten braunen Blätter, einzeln und in Häuflein. Ter Haigasun, der Zelebrant, war zum Psalm gelangt. Seine von ihm ganz und gar abgetrennte Stimme sang: »Schaffe mir Recht, o Herr, und entscheide meine Sache im Gericht!«
    Der Diakon respondierte mit säuselndem Tonfall:
    »Errette mich vom Geschlechte, das nicht heilig ist, vom sündig arglistigen Manne.«
    »Warum hast Du mich vergessen? Warum gehe ich traurig einher, wenn mein Feind mich plagt?«
    »Ich will treten zum Altare Gottes, zu Gott, der meine Jugend erfreut.«
    Während Ter Haigasun diesen langen Wechselgesang mit dem Diakon fehlerlos zu Ende führte, zeigten sich den Augen des andern Ter Haigasun ganz unerträgliche Dinge. Das welke Laub, das überall verstreut lag, war gar kein welkes Laub, sondern Schmutz, Mist, irgend ein unbeschreiblicher Kot, von Feinden Gottes, von Verbrechern auf den Altar geworfen. Eine andre Erklärung war unmöglich, denn es konnte ja nicht Schmutz vom Himmel geregnet haben. Ter Haigasun stierte ins Brevier, um die grauenhafte Entweihung nicht sehen zu müssen. Aber sah sie das Volk nicht? Und hier geschah die erste Verwirrung im Text. Der Diakon hatte gesungen:
    »Allmächtiger Herr, unser Gott, erhalte uns und erbarme Dich unser!«
    Jetzt sollte der Priester mit seinen Worten einfallen. Ter Haigasun aber schwieg. Der Diakon drehte sich mit großen Augen zum Sängerchor. Da sich aber Ter Haigasuns Stimme noch immer nicht erhob, trat er einen Schritt näher und flüsterte scharf:
    »Im Hause der Heiligkeit …«
    Der Priester schien nichts zu hören. Der Diakon flüsterte jetzt schon halblaut und verzweifelt:
    »Im Hause der Heiligkeit und am Orte …«
    Ter Haigasun erwachte:
    »Im Hause der Heiligkeit und am Orte des Lobgesanges, in dieser Wohnung der Engel und an dieser Sühnstätte der Menschen, werfen wir uns vor diesem Gott angenehmen und lichtvollen Zeichen in Ehrfurcht nieder und beten an …«
    Ter Haigasun atmete schwer. Unter der Krone rann ihm der Schweiß in Stirn und Nacken. Er wagte es nicht, ihn abzutrocknen. Hinter seinem Rücken schwang sich jetzt die näselnde Stimme des Obersängers Asajan auf: »An dieser geweihten Opferstätte des Tempels sind wir versammelt zur Bittfeier …«
    Die eitle eingebildete Stimme Asajans reizte den Priester wie noch nie. Wann werde ich den Menschen los, dachte er. Zugleich ließ der Druck in den Schläfen ein wenig nach. Vielleicht überstehe ichs doch, Christus hilf mir! Ter Haigasun starrte mit angstvollen Augen auf das Altarkruzifix. Die Stimme eines der Wesen, aus denen er bestand, warnte ihn: Sieh ja nicht fort! Doch gerade dieser Warnung wegen mußte er fortsehn, vorwärts nämlich, zur hohen Wand aus Buchsbaumzweigicht, die den Altar abschloß. Dort aber stand jemand, leicht an den Pfosten des Rahmens gelehnt, mit gekreuzten Armen, eine Zigarette rauchend. Unerhörte Frechheit! Ter Haigasun verschluckte diesen Ausruf. Beim nächsten Hinblicken war dieser Jemand aber nicht mehr Sarkis Kilikian, den er verabscheute, den er hatte in Fesseln legen lassen. Dieser Jemand war zeitweilig überhaupt ein Niemand. Die Wand starrte leer. Dann kam der Russe wieder, verwandelte sich in alle möglichen Leute, einmal schien er sogar Krikor zu sein, zuletzt jedoch geschah es, daß ein Priester im Meßgewand dort stand. Ter

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