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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nicht im Kirchenbuch standen und sich zum Glück nur selten im Lager, niemals aber bei der Messe zeigten. War diese Gesellschaft auf einmal fromm geworden? Ter Haigasun wandte den Kopf knapp zur Regierungsbaracke rechterhand. Wo war die Wache? Ach ja, Bagradian hatte alles, selbst einen Teil der Reserve, in die Stellungen gezogen. Der Priester erwog blitzschnell: Umkehren, unter irgend einem Vorwand! Den Gottesdienst verschieben! Nach Gabriel Bagradian schicken! Die Muchtars zusammenrufen! Vorkehrungen für die Sicherheit treffen! Trotz dieser Erwägungen ging er aber weiter, langsamer allerdings und mit kleinen zögernden Schritten. In der Nähe des Altars standen dicht gereiht die Mitglieder der alten, hervorragenden Familien, die Muchtars mit ihren Frauen und Töchtern, die Schar angesehener Grauhäupter in derselben Ordnung, wie sie in den Kirchen des Tals üblich war. Der Führerrat schien nur spärlich vertreten zu sein. Bedros Hekim, der übrigens seine Freidenkerei niemals äußerlich betätigte, hatte im Lazarettschuppen nicht abkommen können. Ter Haigasun suchte vergebens das Gesicht Pastor Arams. Lehrer Schatakhian war entschuldigt, da er als Befehlshaber der Ordonnanzen in der Nordstellung bleiben mußte. Was Gabriel Bagradian betrifft, so hatte er zwar versprochen, rechtzeitig zum Gottesdienst zu kommen, schien aber durch irgendwelche Umstände abgehalten worden zu sein. Als die Reihen der Dorfalten auseinander traten, um eine Gasse für den geistlichen Aufzug zu bilden, wurde die Seele Ter Haigasuns noch einmal gewarnt. Zwischen Sarkis Kilikian und einem Unbekannten stand Hrand Oskanian eingeklemmt wie ein Verhafteter. Der Knirps mit dem schwarzumwucherten Gesicht schnitt eine unselige Grimasse, zwinkerte den Priester heftig an und schnappte mit verzweifeltem Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Und wieder war es Ter Haigasun, als sollte er stehn bleiben und sich scharf dem Ausgestoßenen zuwenden: Was gibts da? Was hast du mir zu sagen, Lehrer Oskanian? Und wieder ging Ter Haigasun weiter, den Blick kaum hebend, von irgend einer Macht oder Ohnmacht geführt, die ihm das erstemal auf dem Damlajik den starken Willen raubte.
    Gerade als er die erste Stufe des Altars betrat, bemerkte er, daß er den Brief Nokhudians daheim in der Pfarrhütte vergessen hatte. Diese Tatsache verwirrte ihn über die Maßen, denn sie vereitelte seine Absicht, sogleich nach dem Segen den Brief über das Ende der Landsleute von Bitias zu verlesen, um dadurch alle fluchtsinnenden Strömungen zu entkräften. Das vergessene Blatt und die böse Vorbedeutung bestürzten ihn so tief, daß er eine schier endlose Weile verstreichen ließ, ehe er die Altarstufen hinanstieg. Das Volk hinter seinem Rücken schien die Geistesabwesenheit und Unkraft des Priesters genau zu spüren, denn das Kindergeschrei, das unruhige Gewoge und der zudringliche Schwatz wurden immer unverschämter. Und in diesen ausgehöhlten Herzen sollte sich die große Inbrunst bilden, um das Wunder Gottes herabzuflehen? Gequält drehte sich Ter Haigasun um. Da stürzte gerade Gabriel Bagradian atemlos herbei und stellte sich in die erste Reihe. Ter Haigasun fühlte einen Augenblick lang Erleichterung. Schon hatte der Sängerchor hinter seinem Rücken den Hymnus begonnen. Ihm war nun eine Pause geschenkt und er schloß die Augen, um sich zu sammeln. Hohl und matt klangen die Stimmen im Freien:
    »Der Du Deine Schöpferarme gegen die Sterne streckst,
Gib Stärke unsern Armen,
Damit sie, ausgestreckt, zu Dir gelangen!
    Durch die Krone des Hauptes kröne den Geist,
Bekleide die Sinne mit dem Orarion,
Mit Aarons blühendem goldenem Kleid!
    Gleich allen Engeln, den theokratischen, herrlichen,
Sind wir angetan mit Deiner ummantelnden Liebe,
Dem Geheimnis, dem heil’gen, zu dienen.«
    Der Chor schwieg. Ter Haigasun sah das kleine silberne Waschbecken vor sich, das ihm der Diakon reichte. Er tauchte seine Finger ein und ließ sie solange im Wasser, daß ihm der Diakon mit erstauntem Blick das Becken entzog. Dann erst kehrte er sich halb, im Profil, zur Gemeinde und bezeichnete die Gläubigen dreimal mit dem Kreuz. Darauf wandte er sich wieder zum Altar und erhob die Hände. In diesem Augenblick teilte sich das Wesen Ter Haigasuns. Der eine Teil war der zelebrierende Priester, der nach alter Vorschrift diesen außerordentlichen Gottesdienst abhielt und keinen Einsatz der Wechselgesänge versäumte. Der andre Wesensteil, er bestand aus einigen Schichten, war ein

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