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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Haigasun hielt es anfangs für lächerlich, daß dieser Priester er selbst sein sollte. Er war es ja auch nicht, denn er trug doch keine militärische Lammfellmütze, sondern die goldverzierte Krone:
    »Segen und Preis dem Vater, Sohne und Heiligen Geist …«
    Weiter kam er nicht. Zwischen dem Menschen an der Wand und ihm schwebte seine eigene Stimme und bohrte sich in sein Gehör:
    »Was gaukelst du da am hellen Tag? Wozu dieser Bittgottesdienst?«
    Ter Haigasun suchte mit seinem Blick die aufsteigenden Weihrauchwolken. Die Gestalt und die Stimme aber ließen nicht ab von ihm:
    »Was für ein Teufel von Gott müßte das sein, der seinem frommen Armeniervolk dieses Jahr zubereitet hat …«
    Ter Haigasun begann nach der Vorschrift den Vespergesang anzustimmen:
    »Heiliger Gott, heilig und unsterblich, erbarme Dich unser! Bewahre uns vor der Versuchung und all ihren Pfeilen!«
    Jetzt schien die Antwort gar nicht mehr von Kilikian, sondern ganz aus ihm selbst zu kommen:
    »Du glaubst nicht, du glaubst ja nicht an das Wunder. Du bist überzeugt, daß morgen viereinhalbtausend armenische Leichen den Damlajik bedecken werden.«
    Der Diakon reichte Ter Haigasun das Räucherfaß, damit er nach dem Brauche das Volk inzensiere. Ein unsinniges Durstgefühl durchzuckte Ter Haigasun. An der Wand lehnte niemand mehr. Doch die Stimme war nahe wie zuvor:
    »Du willst mich töten. Töte mich, wenn du den Mut hast.«
    Das Räucherfaß klirrte aus der Hand des Priesters zu Boden. In dieser Sekunde entstand ein ganz neuer Ter Haigasun. Mit einem barbarischen Aufschrei ergriff er einen der schweren Silberleuchter und schwang ihn hoch über seinem Kopf. Doch er stürzte sich nicht, um seinen Feind zu finden, auf die Erscheinung vor der Zweigichtwand, nein, sondern mitten unter die Gemeinde.
     
    Ohne die Hungervision und den Anfall Ter Haigasuns wäre es wahrscheinlich zu gar keinem »Putsch« gekommen. Auch die Deserteure der Südbastion waren zum größten Teil Armeniersöhne, voll Scheu und Ehrfurcht vor dem Altar. Der Langhaarige aber hatte seine Truppen, überfallsbereit, in der Nähe der Regierungsbaracke versammelt. Als der Aufruhr am Kopf des Altarplatzes losbrach, hielt er das Zeichen für gegeben. Zehn von seinen Leuten begannen, um das nötige Chaos zu erzeugen, Schreckschüsse in die Luft zu knattern. Die andern stießen die Tür ein und hatten binnen wenigen Sekunden schon die Munitionsverschläge entdeckt und vor die Baracke geschleppt. Was aber an den Altarstufen geschah, das geschah so traumschnell, daß weder die Muchtars, noch auch Gabriel zum Bewußtsein des Vorgangs kamen. Dabei war das Traumhafte wesentlicher als die Schnelligkeit, denn vielleicht dauerte das Ganze mehr als zwei Minuten. Es waren freilich zwei Minuten, die auf einem unbekannten Nebengeleise der Zeit einhersausten. Als Ter Haigasun mit dem hochgeschwungenen Leuchter sich unter die Andächtigen geworfen hatte, war alles auseinandergefahren. Gabriel Bagradian sah, daß der Priester auf eine Gruppe von Deserteuren zustrebte. Auch er hatte nicht begriffen, wer dieses Pack zum Gottesdienst und zur Versammlung geladen hatte. Ter Haigasun schien einen bestimmten Mann zu suchen. Doch schon im nächsten Augenblick war er in einem Haufen dieser Bewaffneten eingeklemmt. Sie entwanden ihm den Leuchter, sie stießen ihn brüllend hin und her, endlich rissen sie ihn zu Boden. Jetzt knatterten die Schüsse im Rücken der Menge auf. Ein wahnsinniger Angstschrei drosch alles auseinander. Die Muchtars mit ihren Weibern versuchten jammernd zu fliehen. Bagradian aber drängte mit vorgehaltenem Revolver in den Knäuel, um Ter Haigasun zu befreien. Einer der Deserteure, der ihm folgte, ließ mit voller Wucht den Gewehrkolben auf ihn niedersausen. Gabriel stürzte zusammen. Hätte der Hieb den Tropenhelm von seinem Kopf geschleudert, so wäre es sein Ende gewesen. Der Kolbenschlag trieb aber den widerstandsfähigen Korkhelm tief in sein Gesicht, wobei zugleich die tödliche Wucht abgefangen wurde. Bagradian fiel in Betäubung, ohne wirklich verletzt zu sein. Andre hatten inzwischen Ter Haigasun an einen der tief in die Erde gerammten Eckpfosten des Altargerüstes mit starken Hanfstricken gebunden. Der Priester wehrte sich lautlos, aber mit erstaunlicher Kraft. Hätte er das Dolchmesser gehabt, das er in seiner gewöhnlichen Kutte bei sich trug, einer von den Verbrechern wenigstens hätte mit dem Leben bezahlen müssen. Die Muchtars standen in der Ferne, keuchend und

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