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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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schlotternd. Alte Leute waren sie alle mit hungerverschrumpften Muskeln. Sie konnten Ter Haigasun nicht beispringen. Ihnen fehlte ja selbst die Kraft, sich in Sicherheit zu bringen. Die Weiber und Töchter versuchten es, sie mit unmenschlichen Schreien zurückzuzerren. Die Menge verstand noch immer nichts. Durch das Gewehrgeknatter halb wahnsinnig geworden, drängte sie vorwärts gegen den Altar. Da aber zugleich die vorderen Reihen zurückfluteten, entstand ein heilloser Strudel von Leibern, Angst- und Wehgekreisch. Schon stießen ein paar der schlimmsten Burschen, die seit Monaten kein Weib berührt hatten, von außenher wie Fischadler in den Tumult und packten mit ihren schmutzigen Fängen eine Frau hier, ein Mädchen dort. An Ort und Stelle versuchten sie den aufgellenden Opfern die Feiertagskleider und den Schmuck vom Leibe zu zerren. Ein andrer Trupp, der größere Nüchternheit bewies, stürmte in die Hüttengassen, um die ärmste Armut zu plündern. All dies war von solch unermeßlicher Greulichkeit, daß die menschliche Seele, um aufatmen zu können, diese Schurkerei lieber für Tollwut ansehn möchte, für die Todeszuckung eines Volkskörpers, dem der Rassenfeind jeden Nerv einzeln durchschnitten hatte. So wars denn noch tröstlich, daß nicht alle von den Spießgesellen sich aktiv beteiligten und eine erhebliche Anzahl nur Zuschauer-, Mitläufer- und Statistendienste leistete.
    Mittlerweile machten sich die ersten Zeichen der Gegenwehr bemerkbar. Einige vom Lagervolk, die noch halbwegs bei Kräften waren, bekamen diesen und jenen Deserteur, der zwischen ihnen festgekeilt stand, zwischen die Fäuste. Die Kunden wurden entwaffnet, niedergeworfen und halb zertreten. Entschlossene drängten vor, um Ter Haigasun zu befreien. Noch ein paar Minuten, und es wäre vielleicht zu einem namenlosen Blutbad durch die von der Überzahl bedrängten Verbrecher gekommen, die ihre Gewehre schon fertig machten. Aber das tollgewordene Schicksal übersteigerte sich noch einmal. Wie in den letzten Tagen so oft schon, sprang der Wind um, das heißt ein jäher Wirbelwind begann um den Platz zu kreisen. Da niemand mehr den Altar bewachte, wurden zwei hölzerne Leuchter und ein Gefäß mit Blumen umgeworfen und rollten vom heiligen Tisch. Ter Haigasun rang noch immer stumm mit den dicken Stricken, die ihn an das Gerüst fesselten. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um Kraft zu sammeln. Bei jedem neuen Stoß wankte der Bau. Seine blutunterlaufenen Augen suchten die Hilfspriester, die Sänger, Asajan, den Küster. Diese alle aber waren verschwunden, oder wagten sich nicht in die Nähe des Gefesselten, der von einem Haufen der Deserteure bewacht wurde, wohl damit die Munitionsräuber in Ruhe entkommen könnten. Bei diesen Deserteuren am Altar stand auch Sarkis Kilikian. Er sah Ter Haigasun und seinen wilden Befreiungsversuchen interessiert zu, so als hätte er an all diesen Vorgängen und Schicksalen nicht den geringsten Anteil und stehe aus purer Neugier hier. Nach einer Weile verließ er schlendernd den Schauplatz. Sein gelangweilter Rücken schien zu sagen: Nun hab ich genug. Es ist auch höchste Zeit. Kaum aber hatte sich Kilikian entfernt, geschah das Ungeheuerliche. Nur weil sein Verschwinden so auffällig damit zusammenfiel, brachte ihn Ter Haigasun später mit der Brandstiftung in Zusammenhang. In Wirklichkeit ging der Russe an den Stufen vorbei und berührte gar nicht die Blätterwand, die sich drei Schritte hinter dem Gerüst erhob. Anfangs knisterte es in dem trockenen Holz- und Blättergeflecht, nur recht zahm und harmlos. Die Flamme aber, die dann jählings hochflatterte, hatte mindestens die doppelte Höhe der Flechtwand. Sie wurde vom Meerwind sofort eingeknickt und nach rechts umgelegt. Geflügelte Zungen und freie Fähnchen lösten sich los und besprangen das Dach der nächstliegenden Baracke. Dies war die prächtige Behausung Thomas Kebussjans, die sogar durch die Aufschrift »Gemeindehaus« ausgezeichnet war. Bei dieser ersten Gelegenheit benahm sich das Feuer gleichsam noch verlegen, als habe es Gewissensbisse zu überwinden. Als aber das Reisigdach der Baracke binnen einer Minute mit einem Knall hoch aufflammte, da gab es keinen Halt mehr. Wie auf dem Boulevard einer Großstadt die Lichterreihe aufblitzt, so fuhr der Brand um den Platz, fast gleichzeitig aus jeder Hütte emporschlagend. Vielleicht hatten die Schurken mehrere Brandherde entzündet, um durch ein Riesenfeuer das Volk festzuhalten und eine Verfolgung

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