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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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zerrissene Alba, die Stola und alle andern Gewandungsstücke des heiligen Dienstes sorgfältig zusammenzulegen. Seine Blöße verhüllte er mit einer Decke, die ihm jemand geliehen hatte. Aus Ter Haigasuns Bart war eine Strähne herausgesengt und eine rote Brandwunde lief ihm über die Backe. Ganz und gar verwandelt war sein Gesicht. Die gelbliche Kameenfarbe der eingefallenen Wangen war dunkler Fieber- oder Zornesglut gewichen. Als er Bagradian erblickte, rang er stumm nach Worten. – Auch die Muchtars hatten sich indessen ihrer Pflicht erinnert und kamen herbeigelaufen. Ob sie freilich ihre wohlgefüllten Geldbörsen aus Rauch und Flammen gerettet oder nicht gerettet hatten, das muß dahingestellt bleiben. Sie alle, mit Thomas Kebussjan an der Spitze, leugneten die Rettung jedenfalls. In diese Stunde, die das Ende besiegelte, mischten sie ihre Klagen um das verlorene Hab und Gut. Immer mehr alte Leute stießen zu ihnen und vermehrten das quäkende Gezeter. Das Volk hatte den Kampf mit dem Feuer aufgegeben. Die Willenskraft reichte nur mehr zu kopflosem Getümmel aus, das allmählich zu erstarren begann. Auch die Zehnerschaften, die Tschausch Nurhan zu Hilfe gesandt hatte, konnten nichts mehr retten. Sie sahen dem Feuer müßig zu, das die Hütten nicht von außen zu bespringen, sondern das aus ihrem Innern auszubrechen schien, als habe es dort nur auf diese Gelegenheit gewartet. Die prasselnden Laubdächer wurden emporgehoben und im Luftzug wirbelten Fetzen und Lumpen in die Höhe. Dichtgeschart hockte bald alles auf der Erde des großen Platzes, die Frauen, die Kinder, die Alten. Diese Verhungerten rührten sich nicht mehr. Auf den erdigen Gesichtern zuckte der Brandschein, ohne daß die Augen ihn mehr zur Kenntnis nahmen. Ihre Haltung bekundete nur eine einzige Sehnsucht, keiner der Führer möge es sich ja einfallen lassen, von ihnen einen Schritt, eine Handbewegung, die geringste Spur neuer Aktivität zu fordern. Hier wollten sie hocken und keinen Widerstand mehr leisten bis zum Ende. Jener Zustand, welchen man das Wohlbehagen der Vernichtung nennen könnte, war erreicht.
    Doch noch einmal wurden die verdorrten Leiber und Seelen aus dem wohligen Einverständnis mit dem Tode gerissen. Hinter den geschlossenen Lidern hatte sich der Geist Bagradians gesammelt. Das geschah fast wider seinen Willen. Anfangs bemühte er sich sogar, der schmerzhaften Anstrengung zu entgehn, die ihn die Konzentration kostete. Dann war es so, als denke im schallenden Bergwerk seines Kopfes nicht er, Gabriel Bagradian, sondern, unabhängig von ihm selbst, der Auftrag, den er einst dort unten im Tal übernommen hatte, der Auftrag, die Verteidigung bis zur letzten Möglichkeit durchzuführen. Während das Bewußtsein des eigenen Ich fast zur Gänze erloschen war, kombinierte eine unbestechliche Kraft in ihm: Ist die letzte Möglichkeit wirklich verloren? Nein! Die Türken haben wahrscheinlich die Südbastion besetzt. Sie führen Maschinengewehre mit sich. Das Lager brennt zusammen. Was hat zu geschehen? Eine neue Verteidigungslinie, die ihnen den Weg abschneidet, so gut es geht! Vor allem aber, das Lagervolk muß von der Bergfläche fort, hinunter ans Meer. Dann zu den Haubitzen! – Awakian näherte sich ihm. Er schrie ihn an:
    »Was suchen Sie noch hier? Schnell zu Nurhan! Er hat sich nicht fortzurühren. Alle Zehnerschaften, die ich für den Überfall aufgestellt habe, sofort zu mir!! Auch die Hälfte der Ordonnanzen und Späher. Wir müssen sofort eine neue Linie bilden, mit Kopfdeckungen wenigstens.«
    Awakian zögerte, wollte noch Fragen stellen, doch Gabriel stieß ihn von sich und trat mitten unter das erstarrte Volk:
    »Warum verzweifelt ihr, Brüder und Schwestern? Kein Grund dazu! Wir haben noch immer siebenhundert Kämpfer und Gewehre und die beiden Geschütze. Ihr könnt ruhig sein! Es ist besser für die Verteidigung, wenn die Gemeinden sich in dieser Nacht unten an der Küste lagern. Die Männer der Reserve aber bleiben hier!«
    Nun hatten sich auch die Muchtars wieder gefaßt. Ter Haigasun erteilte ihnen den Befehl, ihre einzelnen Dörfer zu sammeln und geschlossen den Steilpfad hinabzuführen. Er selbst werde vofangehn, um die besten Lagerplätze ausfindig zu machen. Der Priester fieberte ohne Zweifel und mußte eine gewaltige Anstrengung machen, um ins Leben und in die Pflicht zurückzukehren. Sein Gesicht mit dem versengten Bart war ganz klein und dunkel, als er sich jetzt zu Gabriel wandte:
    »Wichtiger als alles

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