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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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war er die Ursache, daß sie ihr Unglück so leicht ertrug. Der gelähmte Arm hing wie ein Hindernis an ihrer linken Seite. Ihr Körper aber, jung und voll Lebenskraft, stellte sich von Tag zu Tag geschickter auf das Gebrechen ein. Sie gewöhnte sich daran, ohne dessen recht inne zu werden, jede Tätigkeit mit der rechten Hand auszuführen. Es beruhigte sie tief, daß sie keiner Hilfe bedürftig war. Iskuhi lebte nun schon ziemlich lange im Hause Bagradian. Vor einiger Zeit war Pastor Aram Tomasian erschienen, hatte für die gütige Aufnahme seiner Schwester gedankt und erklärt, er wolle sie nun abholen, da er in der Nähe der väterlichen Wohnung ein leerstehendes Haus habe instandsetzen lassen. Gabriel Bagradian zeigte sich bitter gekränkt:
    »Warum, Pastor Aram, wollen sie uns Fräulein Iskuhi entführen? Wir lieben sie alle, und meine Frau am meisten.«
    »Fremde Leute im Hause sind auf die Dauer lästig.«
    »Das ist ein sehr stolzer Standpunkt. Sie wissen es selbst, daß Fräulein Iskuhi ein Wesen ist, das man leider viel zu wenig im Hause spürt, so leise und zurückgezogen. Und dann: Haben wir nicht alle hier das gleiche Schicksal?«
    Aram sah Gabriel mit einem langsamen Blick an:
    »Ich hoffe, daß Sie unser Schicksal nicht rosiger sehn, als es in Wirklichkeit ist.«
    In diesen kritischen Worten verbarg sich ein leichter Argwohn gegen den Landfremden und Wohlgeborgenen, der keine Ahnung von dem Entsetzen dort draußen zu haben schien. Aber gerade die mißtrauische Zurückhaltung des Pastors erfüllte Bagradian mit freundlichen Regungen. Seine Stimme klang sehr warm:
    »Es tut mir leid, daß Sie nicht bei uns wohnen, Pastor Aram Tomasian! Doch ich bitte Sie, so oft Sie nur Lust haben, hierher zu kommen. An unserem Tisch werden von heut an immer zwei Plätze für Sie gedeckt sein. Nehmen Sie mir meine Bitte nicht übel und machen Sie uns die Freude, wenn es für Ihre Frau nicht zu beschwerlich ist.«
    Noch unwilliger darüber, daß Iskuhi eine neue Wohnung hätte beziehen sollen, zeigte sich Juliette. Zwischen den beiden Frauen hatte sich eine eigenartige Beziehung angesponnen, und es kann nicht geleugnet werden, daß Juliette um die junge Armenierin warb. Die feinste Wahrheit über solche Dinge läßt sich freilich nur ungenau andeuten und der Sinn des Wortes »Werben« entspricht dieser Wahrheit bloß oberflächlich. Für ihre neunzehn Jahre war Iskuhi eigentümlich unerweckt, besonders wenn man an den Orient und die Frühreife seiner Frauen denkt. In Madame Bagradian sah das junge Mädchen die große Dame, unendlich überlegen an Schönheit, Herkunft, Wissen, Wesen. Wenn die beiden in Juliettens Zimmer im oberen Stockwerk beisammen saßen, schien Iskuhi auch in vertrauter Gemeinschaft ihre Schüchternheit nicht überwinden zu können. Vielleicht auch litt sie in solchen Stunden an dem Müßiggang, zu dem sie verurteilt war. Juliette wiederum, die Iskuhi suchte, fühlte sich in ihrer Nähe nicht ganz sicher. Obgleich dies unerklärlich erscheint, verhielt es sich so. Es gibt Menschen, die keineswegs durch Rang und Wesen hervorstechen müssen, und doch befällt uns in ihrer Gegenwart ein Gefühl des Kleinmutes. In ihrem Umkreis kommen wir uns selbst, und zwar ohne jeden zureichenden Grund, unecht oder geschraubt vor. Vielleicht war jene redselige Lebhaftigkeit, die Juliette in Fräulein Tomasians Gesellschaft befiel, auf etwas Ähnliches zurückzuführen. Sie konnte Iskuhi lange anstarren und dann in folgende Worte ausbrechen:
    »Weißt du, daß ich im Grunde die Orientalinnen mit ihrer Faulheit und ihren schlaffen Bewegungen alle verabscheue. Nicht einmal bei uns kann ich die Brünetten leiden. Aber du bist ja gar keine Orientalin, Iskuhi. Wenn du so gegen das Licht sitzt, hast du ganz blaue Augen …«
    »Das sagen Sie, Madame«, erschrak Iskuhi, »mit Ihren Augen und Ihrem blonden Haar?«
    »Wie oft soll ich dich noch bitten, meine Liebe, mich nicht Madame zu nennen, sondern Juliette und du? Mußt du mir immer unter die Nase reiben, daß ich die viel Ältere bin?«
    »O nein, das will ich wirklich nicht … Verzeihen Sie … Verzeih …« Juliette mußte über die Arglosigkeit lachen, die einem koketten Scherz mit ernsten, beinahe entsetzten Augen begegnete.
    Iskuhi hatte fast ihre ganze Habe in Zeitun lassen müssen. Das kleine Gepäck, das die Tomasians auf den Verschickungsweg mitnehmen durften, war irgendwo in den unwirtlichen Feldern jenseits der großen Straße liegen geblieben. Sie besaß also

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