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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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nichts anderes als die verbrauchten Kleider, die zerrissenen Schuhe und Strümpfe, mit denen sie nach Yoghonoluk entkommen war. Juliette zog sich von Kopf bis Fuß neu an. Das machte ihr selbst große Freude. So kam doch endlich der Kabinenkoffer voll Kleider, der die Reise von Paris über Stambul, Beirût in diese Einsiedelei (man konnte ja niemals wissen) treulich mitgemacht hatte, zu seiner Geltung. Zwar mit Frauengewändern geht es wie mit dem Sommerurlaub; sie verwelken im Herbst der Mode, mögen Stoff und Seide noch so gut und köstlich sein. Juliette wußte nichts mehr von den Fortschritten der Mode in Paris. So erfand sie denn eine eigene, »nur nach dem Gefühl«, und begann dafür sich und Iskuhi ihren Kleiderschatz umzuschneidern und zu verändern. Diese leidenschaftlich geübte Nachmittagsarbeit löste die Vormittagsarbeit in Haus und Garten auf das sinnvollste ab. Juliette hatte wirklich kaum Gelegenheit, zu sich zu kommen. Die Modewerkstätte wurde in einem der leeren Zimmer aufgeschlagen. Zwei geschickte Mädchen aus Yoghonoluk wählte die Herrin als Gehilfinnen aus. In den Dörfern sprach sich die Sache herum. Jeden Augenblick erschienen Frauen und boten alte und neue Seiden- und Spitzengewebe zum Kaufe an. Juliette erwarb einen Vorrat, mit dem sie den gesamten Frauenflor eines Ballfestes hätte gewanden können. Die Stunden gingen hin. Fruchtbar an zauberhaften Eingebungen wie sie war, warf sie, ohne die ›Vogue‹ zum Vorbild zu haben, ihre Entwürfe aufs Papier. Manches davon wurde in Taten umgesetzt. Der Zweck spielte keine Rolle. Die arme Iskuhi freilich konnte bei der Arbeit nur zuschauen. Dagegen bot sie für Juliettens Künste eine märchenzarte Modellträgerin. Besonders anmutig standen ihr matte Farben. Immer wieder mußte sie dieses und jenes probieren, das Haar lösen, das Haar aufstecken, sich drehen und wenden. Sie tat es gar nicht ungern. Ihre durch das Schicksal von Zeitun verschüttete Lebenslust begann sich zu regen und die Wangen leicht zu färben.
    »Du bist wirklich eine Heuchlerin, ma petite«, gestand Juliette.
    »Man könnte meinen, du hättest nie etwas anderes getragen als eure Kittel und womöglich noch einen türkischen Schleier vor dem Gesicht. Dann aber ziehst du meine Kleider an und bewegst dich in ihnen, als würdest du dein Lebtag nur an Putz denken. Nicht ungestraft hast du in Lausanne zur französischen Kultur gerochen.«
    Eines Abends verlangte Juliette von ihr, sie möge eine der »großen«, eine der ausgeschnittenen und ärmellosen Roben anlegen. Iskuhis Gesicht verdunkelte sich:
    »Aber das ist doch unmöglich. Ich kann es ja nicht mit meinem Arm.«
    Juliette warf einen bekümmerten Blick auf sie:
    »Das ist wahr! … Aber wie lange wird die Geschichte noch dauern? Zwei, drei Monate. Dann sind wir wieder in Europa. Und dich, Iskuhi, nehme ich mit. Darauf gebe ich dir mein Wort. In Paris und in der Schweiz gibt es einige Anstalten, die solche Leiden heilen.«
    Fast zur gleichen Stunde, in der Gabriel Bagradians Gattin solche kühne Hoffnungen hegte, kamen die ersten verschmachteten Züge der Ausgestoßenen in Deïr es Zor am Rande der mesopotamischen Wüste ans Ziel.
    Nicht immer war Iskuhi so scheu und schweigsam. Wenn die Schreckensbilder sich für längere Zeit entfernten, wenn das Kaleidoskop-Gesicht sie freigab, konnte sie plötzlich wieder lachen und mit Lust und Laune allerlei Spaßhaftes aus Zeitun erzählen. Daß sie aber eine Liederseele war, entdeckte erst Stephan, der sich seit neuerem am Nachmittag aus der Werkstätte der Frauen nicht fortrührte. Juliette hatte sich wieder einmal in ein Thema verbissen, das ihrem Mann schon manche trübe Stunde bereitet hatte. Merkwürdigerweise wurde sie durch Iskuhi, in Gabriels Stellvertretung, besonders dazu gereizt, über das armenische Volk abfällige Bemerkungen zu machen und ihm das Lichtmeer der gallischen Zivilisation entgegenzuhalten wie einem halbdunkeln Winkel:
    »Ihr seid ein altes Volk«, eiferte sie, »gut! Ein Kulturvolk! Meinetwegen! Aber wodurch beweist ihr eigentlich, daß ihr ein Kulturvolk seid? Nun ja, ich weiß schon. Die Namen, die ich immer wieder hören muß: Abovian, Raffi, Siamanto! Aber wer kennt diese Leute? Außer euch niemand auf der Welt. Eure Sprache kann ein europäischer Mensch nie begreifen und sprechen. Ihr habt keinen Racine und Voltaire gehabt. Und ihr habt keinen Catulle Mendès und keinen Pierre Loti. – Hast du je etwas von Pierre Loti gelesen, meine Liebe?«
    Iskuhi

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