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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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hob, von dieser bitteren Rede betroffen, aufmerksam den Kopf:
    »Nein, Mad … nein, ich habe nichts gelesen.«
    »Es sind Bücher aus fernen Ländern«, stellte Juliette mißbilligend fest, als wäre das Grund genug für Iskuhi, diesen Pierre Loti zu kennen. Es war nicht gerade nobel von Juliette, mit solchen erdrückenden Vergleichen zu arbeiten. Doch sie befand sich jetzt in der Lage, das Ihre gegen eine mächtigere Umgebung zu verteidigen, und so wars nicht unverständlich. Man merkte den Augen Iskuhis an, daß sie manches zu sagen hatte. Aber es kam nach einer Weile nur ein einfacher Satz heraus:
    »Wir haben alte Gesänge, die sehr schön sind.«
    »Singen Sie etwas, Mademoiselle«, bat Stephan, der sie aus einer Zimmerecke heraus betrachtete. Iskuhi hatte ihn kaum bemerkt. Jetzt aber wurde es ihr klar wie noch nie, daß der Sohn der Französin ein echter armenischer Knabe war, ohne den Hauch einer fremdstämmigen Wesenheit, unter der blassen Stirn die unverkennbaren Augen seines Volkes, die in ihrem ganzen Leben doch nur Gutes und Angenehmes gesehen hatten. Vielleicht war es diese Erkenntnis, aus der heraus sie ihren inneren Widerstand bezwang und sich zum Singen entschloß. Sie sang nicht, um die Zweiflerin Juliette vom Werte armenischer Lieder zu überzeugen. Sie sang nur für Stephan, als sei es ihre Pflicht, diesen entfremdeten Knaben in seine und in ihre Welt zurückzuführen. Iskuhi hatte eine dünne hauchige Stimme, keinen schönen Frauensopran, eher die Stimme eines kleinen Mädchens. In den traurig-rhythmischen Melodien aber erklang die Stimme nicht nur kindlich, sondern mehr noch priesterinnenhaft. Sie begann mit jenem Gesang, den sie aus Yoghonoluk in die Waisenschule von Zeitun verpflanzt hatte, dem ›Gesang vom Kommen und Gehn‹, der weniger wegen seines weisen Textes als seiner getragenen Melodie zu einem Arbeitslied der sieben Dörfer geworden war:
    »Die Unglückstage ziehen vorbei
Gleich den Tagen des Winters, sie kommen und gehn.
Die Schmerzen der Menschen bleiben nicht lang,
Wie die Kunden im Laden, sie kommen und gehn.
    Verfolgungen, blutige, peitschen das Volk.
Die Karawanen, sie kommen und gehn.
Die Menschen entkeimen dem Garten der Welt.
Ob Bilskraut, ob Balsam, sie kommen und gehn.
    Nicht stolz sei der Starke, der Schwache nicht bleich!
Das Leben vertauscht sie, sie kommen und gehn.
Die Sonne strahlt furchtlos ihr ewiges Licht,
Die Wolken am Altar, sie kommen und gehn.
    Die Welt ist ein Herbergshaus, Sänger, am Weg.
Die Gäste, die Völker, sie kommen und gehn.
Mutter Erde umherzt das gebildete Kind,
Unwissende Rassen verkommen, vergehn.«
    Während des Gesanges spürte Juliette ganz rein an Iskuhi jenes Undurchdringliche, das in Gestalt der Schüchternheit, der Trauer, ja auch in der abwehrenden Entgegennahme von Geschenken all ihren Bemühungen hartnäckig widerstand. Da sie nicht alles aufgefaßt hatte, ließ sie sich das Lied zum Teil übersetzen. Bei der letzten Strophe triumphierte sie:
    »Da sieht man wieder, wie hochmütig ihr seid. Das gebildete Kind, zu dem sich Mutter Erde so schmeichelhaft benimmt, ist das Armeniertum und die unwissenden Rassen, das sind alle anderen …«
    Stephan verlangte fast herrisch:
    »Noch etwas, Iskuhi!«
    Juliette aber wollte etwas Leidenschaftliches hören. Nichts zum Nachdenken und nichts, wo von gebildeten Kindern und unwissenden Rassen die Rede ist:
    »Ein echtes chanson d’amour, Iskuhi!«
    Iskuhi saß regungslos auf ihrem Stuhl, ein bißchen nach vorne gebeugt. Die linke Hand mit den eingekrümmten Fingern lag in ihrem Schoß. Da die tiefgetönte Sonne hinter ihr das Fenster füllte, war ihr Gesicht dunkel und ihre Züge nicht wahrnehmbar. Nach einer kleinen Frist schien sie in ihrer Erinnerung etwas gefunden zu haben:
    »Ich kenne ein paar Liebeslieder, die man hier singt. Das hab ich mir alles gemerkt, als ich noch sehr klein war und gar nichts davon verstand. Eines davon besonders. Es ist ganz verrückt. Eigentlich müßte es ein Mann singen, obgleich das Mädchen dabei die Hauptsache ist.«
    Die Kleinmädchen- und Priesterinnenstimme kam wie aus dem Leeren. Die wilde Strophe stand in einem höchst eigentümlichen Gegensatz zu dieser kühlen Stimme:
    »Sie kam aus ihrem Garten
Und hielt an ihre Brust gepreßt
Zwei Früchte des Granatbaums,
Zwei glänzend große Äpfel.
Sie gab sie mir, ich nahm sie nicht.
Da schlug sie mit der Hand,
Da schlug sie mit der Hand sich an ihr Brustbein,
Schlug dreimal, sechsmal,

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