Die Violine des Teufels
beobachtet.«
Galdón schwieg und stocherte mit zwei Fingern in seinen oberen Zähnen herum. Dann rief er verdrossen: »Morgen bekomme ich zwei Implantate, und ich habe eine Heidenangst. Hast du keine Angst vor dem Zahnarzt?«
Perdomo zuckte die Achseln, um Galdón zu bedeuten, dass er diese Angst nicht teilte. Dennoch musste er sich die abgedroschene Litanei über Zahnärzte, die einem zweifach Schmerzen zufügten, anhören: einmal, wenn man den Mund aufmachte, und ein weiteres Mal, wenn man die Brieftasche aufklappte. Dreitausend Euro würden sie ihm für die Behandlung abnehmen, klagte der Chef.
»Mal sehen«, fuhr er fort, nachdem er sich Luft gemacht hatte. »Welche Fragen sind noch offen?«
»Wenn wir davon ausgehen, dass Roskopf der einzige Beteiligte ist, dann ist das Motiv des Verbrechens der Diebstahl der Geige. Aber um eine Stradivari zu stehlen, muss man nicht gleich eine Frau umbringen. Ein so kräftiger Mann wie Roskopf hätte sie mühelos bewusstlos machen können. Denk dran, er hat eine Kampfsportart beherrscht. Roskopf hatte aber die Absicht, sie zu töten, bloß warum? Ich glaube, da war noch jemand beteiligt, jemand, der Ane Larrazábal tot sehen wollte. Dieser Jemand hat Roskopf einen Teil der Arbeit abgenommen und das Opfer mit einer Nachricht, die ich immer noch nicht entschlüsselt habe, an einen abgelegenen Ort gelockt, nämlich in den Chorsaal.«
»Von welcher Nachricht redest du?«
»Von der Partitur, die wir in Larrazábals Garderobe gefunden haben. Das kann nur eine verschlüsselte Botschaft sein.«
»Wieso bist du da so sicher?«
»Weil sie als Musik keinen Sinn ergibt. Larrazábals Vater hat gesagt, die Schrift sei der von Rescaglio sehr ähnlich, deshalb bin ich beinahe sicher, dass die Nachricht von ihm stammt. Aber er wollte die Frau demnächst heiraten. Warum sie dann töten? Ich kann mir das auch nicht erklären. Und dann sind da noch Roskopfs letzte Worte: ›Sie wäre sowieso gestorben.‹«
»Was wollte er damit sagen?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht meinte er den Fluch, der auf der Geige lasten soll. Als wollte er sagen, sie wäre gestorben, weil bisher alle Besitzer der Stradivari gestorben sind.«
51
G regorio hatte in seinem ersten Jahr als Zuständiger für den Rätsel-und-Spiele-Teil der Schülerzeitung solchen Gefallen an seiner Tätigkeit gefunden, dass er sich auch in den Ferien weiter Herausforderungen für das Denkvermögen seiner Mitschüler ausdachte. »Dann habe ich schon mal was fürs nächste Schuljahr«, sagte er sich, während er sich bemühte, einem Rätsel, das er »Der versteckte Satz« nannte, den letzten Schliff zu geben. Die Idee dazu war ihm gekommen, als er auf dem Schreibtisch seines Vaters eine Kopie der mysteriösen Klavierpartitur gesehen hatte.
Der Junge nahm an, es handele sich um etwas, was mit der Arbeit seines Vaters zu tun hatte, deshalb wagte er nicht einmal, das Papier zu berühren. Stattdessen holte er sein Notenheft und schrieb das kurze, rätselhafte Fragment Note für Note ab. Gleich beim ersten Blick auf die Partitur hatte Gregorio bemerkt, dass die Noten einen fortlaufenden Wert hatten. Im ersten Takt standen beispielsweise vier Noten, von denen jede jeweils halb so lang war wie die vorhergehende: eine halbe Note, eine Viertelnote, eine Achtel- und eine Sechzehntelnote. In keinem Takt gab es zwei Noten, die denselben Wert hatten. Somit war es möglich, die Notenköpfe in ab- oder aufsteigender Reihenfolge der Werte miteinander zu verbinden, wie bei einer Erwachsenenvariante des beliebten Kinderspiels, bei dem man ein Bild zeichnet, indem man Punkte in der Reihenfolge ihrer Numerierung miteinander verbindet. Das Grundprinzip war das gleiche, nur dass sich aus der Partitur nicht ein Bild ergab, sondern mehrere Wörter. Ohne größere Schwierigkeiten setzte der Junge den folgenden Begriff zusammen:
»Sala del Coro – Chorsaal.«
Und da fiel Gregorio wieder ein, was er in den Fernsehnachrichten gesehen hatte: Genau dort, im Chorsaal, war Ane Larrazábal stranguliert worden. Der Junge riss die Seite mit der kopierten Partitur aus dem Notenheft und steckte sie in die Tasche, damit er sie zur Hand hatte, wenn sein Vater nach Hause kam.
Gegen Mittag klingelte es an der Tür. Gregorio schrak zusammen. Das konnte niemand sein, den er kannte. Dienstags kam die Haushaltshilfe immer erst um vier, und sein Vater klingelte zwar manchmal aus reiner Bequemlichkeit, um nicht den Schlüssel herauskramen zu müssen, aber immer zwei
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