Die Violine des Teufels
Schritt tun, ohne dass ein Möbelstück oder irgendein Gegenstand sie an Juana erinnerten.
Große Sorgen bereiteten dem Inspector auch die Fragen, ob er sich vor seinem Sohn in Begleitung anderer Frauen sehen lassen durfte, und seien es auch nur Freundinnen, und ob es ratsam war, mit dem Jungen irgendeine religiöse Seelsorge in Anspruch zu nehmen, auch wenn er selbst nicht gläubig war. Als Kind war er es noch gewesen, und er musste zugeben, die Vorstellung, dass den geliebten Menschen nach dem Tod ein zweites Leben gewährt wurde, war ausgesprochen tröstlich.
Gregorios Stimme riss ihn aus diesen Grübeleien. Perdomo hörte sofort, dass auch er noch nicht geschlafen hatte – vermutlich war er ebenfalls noch zu aufgewühlt.
»Papa, wie ist Mama gestorben?«, fragte Gregorio unverblümt.
Damit kam sein Sohn bereits zum zweiten Mal an diesem Tag spontan auf seine Mutter zu sprechen. Bisher hatte er allerdings noch nie nach Einzelheiten ihres tödlichen Unfalls gefragt, seit sie Juanas Leiche aus Ägypten nach Spanien hatten überführen lassen, um sie in einem Madrider Krematorium einzuäschern.
»Ist es nicht ein bisschen spät, um darüber zu reden, Gregorio?«, fragte Perdomo in der absurden Hoffnung, sich vor dem Thema drücken zu können, wenigstens für diese Nacht. Doch Gregorio war nicht davon abzubringen.
»Ich weiß, dass sie beim Tauchen starb, aber wie konnte das passieren? Großpapa sagt, sie war eine der besten Taucherinnen Spaniens.«
Ganz kurz war Perdomo versucht, Gregorio mit einem autoritären »Lass mich bitte schlafen« abzukanzeln, aber er spürte, dass es für sie beide am heilsamsten war, offen über Juana und die Begleitumstände ihres tödlichen Unfalls zu sprechen, immer vorausgesetzt, dass der Anstoß dazu von Gregorio kam.
»Deine Mutter war wirklich eine großartige Taucherin. Deshalb hat sie sich, so oft sie konnte, mit einer Freundin davongemacht, um ein paar Tage im Roten Meer tauchen zu gehen, besonders im Blue Hole – das ist eine der faszinierendsten Unterwasserhöhlen der Welt.«
»Und da ist es passiert, im Blue Hole?«
»Ja. Das Blue Hole ist eine Korallenlagune, durch die man unter einem Bogen hindurch ins offene Meer tauchen kann. Der Bogen liegt in sechzig Metern Tiefe und wird auch ›Kathedrale‹ genannt. Es ist wunderschön dort, aber auch gefährlich. Genau genommen stirbt dort jedes Jahr der eine oder andere Taucher. Der spanische Konsul in Alexandria, der mir geholfen hat, Mama wieder nach Hause zu holen, hat mir erzählt, dass man das Blue Hole auch den ›Friedhof der Taucher‹ nennt, weil auf dem Boden des über hundert Meter tiefen Abgrunds die Überreste von mehr als hundert Unglücklichen liegen, die es nicht geschafft haben, durch die Kathedrale hindurchzutauchen.«
»Aber Mama schon?«, fragte der Junge, halb fasziniert, halb entsetzt.
»Oft. Und auch beim letzten Mal wäre ihr nichts passiert, wenn sie nicht versucht hätte, einer anderen Taucherin in Not das Leben zu retten.«
»Wie können die zulassen, dass da immer wieder Leute tauchen, wenn es so gefährlich ist?«
»Ich glaube, aus Geldgier, Gregorio. Der Konsul hat mir sogar erzählt, dass die ägyptischen Behörden die Zahl der Todesfälle beschönigen, um die Touristen, die in diesen Gewässern eine Menge Geld lassen, nicht abzuschrecken.«
»Ist es Mama wenigstens gelungen, dieser anderen Taucherin das Leben zu retten?«
»Ja«, log Perdomo. Es erschien ihm allzu grausam, dem Jungen zu sagen, dass der Tod seiner Mutter völlig vergeblich gewesen war. In Wirklichkeit war die Frau, die sie zu retten versucht hatte, ebenfalls auf den Boden des Abgrunds gesunken.
»Warum war diese Frau denn in Not geraten?«
»Wie gesagt, der Bogen, unter dem man hindurch muss, um von der Lagune ins offene Meer zu tauchen, liegt in großer Tiefe. Ab vierzig Metern Tiefe besteht die Gefahr – für jeden Taucher –, dass eine Stickstoffnarkose auftritt.«
»Was ist das?«
»In den Taucherflaschen ist ein Gemisch aus Sauerstoff und Stickstoff. Wenn man sehr tief taucht, besteht die Gefahr, dass zu viel Stickstoff durch die Lunge in den Blutkreislauf gelangt, und das hat eine ähnliche Wirkung wie Alkohol. Deshalb nennt man es auch ›Tiefenrausch‹. Genau das war der Frau passiert, die Mama gerettet hat: Sie war zu tief getaucht, vielleicht weil sie schon erste Tiefenrauschsymptome hatte. Jedenfalls ist die Kathedrale, also der Durchgang unter dem Bogen, trügerisch, es sieht aus, als wäre er
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