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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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der anhaltenden Trockenheit das Wasser zwischen zweiundzwanzig und sechs Uhr rationiert werde, hing die Todesanzeige. Mit Mühe konnte man den gedruckten Text noch lesen:
    Am Abend des 13. Juli wurde Giorgio Lucarelli allzufrüh der Zuneigung der Seinen entzogen. In unermeßlicher Trauer bleiben zurück die Eltern Carlo und Assunta, die Ehefrau Antonietta, die Töchter Sonia und Sabrina sowie alle Verwandten.
    Die Totenmesse wird am 18. Juli um 9.00 Uhr in der Gemeindekirche von Montesecco stattfinden, die Beerdigung anschließend auf dem örtlichen Friedhof.
    Auf der linken Seite des Plakats war ein schwarzes Kreuz abgebildet, das von kunstvoll verschlungenen Phantasiepflanzen umrankt wurde. Weniger kunstvoll waren die dicken roten Druckbuchstaben, die quer über das Plakat geschmiert worden waren: VV LA VIPERA!
    »Evviva la vipera, hoch lebe die Viper!« las Lidia Marcantoni halblaut, als könne sie ihren alten Augen nur trauen, wenn sie auch hörte, was da geschrieben stand.
    »Um Gottes willen!« sagte sie dann.
    »Verdammte Schweinerei!« sagte Ivan.
    »Und das am Tag der Beerdigung«, sagte Marta.
    »Das sind Verbrecher«, sagte Ivan, »da nützt Einsperren gar nichts. Die sollte man ...«
    »Weil der Respekt fehlt«, sagte die alte Marcantoni, »und die Moral. Zu meiner Zeit war das anders, aber wen wundert es, wenn sie im Fernsehen nichts als halbnackte Flittchen zeigen.«
    »Was hat denn das Fernsehen damit zu tun?« fragte Ivan.
    »Na, woher kommt es denn, daß die jungen Leute keine Moral mehr haben? Schau dir doch die kleine Vannoni an! Schreit in der Nacht herum, daß sie schwanger ist. Ist das vielleicht Moral?«
    »Die kann von mir aus alle fünf Monate schwanger werden, aber das ...«, sagte Ivan.
    »Wißt ihr, was passiert, wenn das die Lucarellis sehen?« fragte Marta.
    »Wir übermalen es einfach. In der gleichen Farbe. In Rot«, sagte Ivan.
    »Quatsch!« sagte Marta, doch Ivan war schon bei Curzios und klopfte, um nach Farbe zu fragen.
    »Quatsch!« sagte auch Marisa Curzio. »Dann sieht es aus, als hätten die Kommunisten geputscht.«
    »Ja und?« hielt Ivan dagegen. »Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel, wenn da klar und deutlich steht: Hoch lebe die Viper!«
    »Abreißen!« riet Paolo Garzone, der von irgendwoher aufgetaucht war. Mit seinen massigen Fingern zupfte er unbeholfen am oberen Rand des Plakats herum.
    »Hol lieber einen Spachtel!« sagte Marta.
    »Bevor du einen Krampf in den Fingerchen bekommst«, sagte Ivan.
    Paolo brummte irgend etwas, doch er setzte sich in Bewegung und war kurz darauf mit einem Werkzeugkasten zurück. Bedächtig klappte er ihn auf und holte einen Spachtel heraus.
    »Hast du keinen breiteren?« fragte Marta.
    »Irgendwo schon«, sagte Paolo und kramte tief in seinem Kasten.
    »Los, gib her!« sagte Ivan. Er nahm den Spachtel. »Die Technik zählt, nicht die Größe. Stimmt’s, Marta?«
    »Ist seiner wirklich so klein, Marta?« Marisa Curzio kicherte.
    »Klein?« Ivan warf sich in die Brust. »Wenn du zwanzig Jahre jünger wärst, Marisa, würde ich dir mal zeigen ...«
    »Jetzt mach schon!« sagte Marta.
    »Klein!« Ivan schüttelte den Kopf. Dann setzte er den Spachtel an der rechten unteren Ecke des Plakats an. Er kratzte unangenehm übers Metall der Anschlagtafel, doch das Papier löste sich ein Stück weit. Ivan stocherte nach, riß einen Fetzen mit der linken Hand ab, schabte weiter. Nach und nach beseitigte er die Information über Ort und Zeit der Totenmesse und arbeitete sich schon zum unteren Rand des Wortes »Viper« vor, als er mit dem Spachtel abrutschte.
    »Verdammt«, knurrte er und hielt sich den blutenden Finger.
    »Die Technik zählt, was?« sagte Marisa Curzio.
    »Das kommt von der Flucherei«, sagte die Marcantoni in der eigenwilligen Interpretation des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, die ihr eigen war.
    »Laß mich mal!« sagte Marta, doch Ivan gab den Spachtel nicht ab.
    »Was ist denn hier los?« fragte eine Stimme hinter ihnen. Mit den beiden Mädchen an der Hand stand Antonietta Lucarelli vor ihrem Haus. Durch den Fliegenvorhang folgten Carlo und Assunta. Die Erwachsenen trugen Schwarz, Sabrina und Sonia hatten blaue Sommerkleider an.
    »Nichts ist los«, sagte Ivan.
    »Gar nichts«, sagte Lidia Marcantoni.
    Paolo Garzone richtete sich vor der Anschlagtafel zu voller Größe auf und ließ die breiten Arme neben dem Körper hängen. Marisa Curzio rückte dicht an ihn heran. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, blieb aber dennoch

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