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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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ziemlich viel Kundschaft.
    Gegen Mittag zog der Himmel zu. Über den östlichen Hügeln bildeten sich lichtweiße Wolken, die sich auf ihrem Weg landeinwärts zu dichten grauen Klumpen ballten. Noch immer lag drückende Schwüle über den Feldern, auch wenn die Sonne nicht mehr durchstach. Die Erde lechzte vergeblich nach Wasser. Abregnen würde es erst am Monte Catria.
    Costanza ging an der Zufahrt zum Dorf vorbei, den Berg hinab, bekreuzigte sich, als sie den Friedhof passierte. Lucarelli war gegen Mittag gebissen worden. Hatte er nicht am Vormittag nach seinen Oliven sehen wollen? Bald war Costanza an den Ölbäumen angelangt, schaute, grummelte, strich geduldig in immer größer werdenden Kreisen über das Stoppelfeld. Nichts.
    Erst auf dem Rückweg sah sie die Wasserflasche unter dem Maulbeerbaum auf dem Grundstück des alten Godi. Und dann ein Stück schwarze Schlangenhaut, das unter einem Haufen schwerer Steine hervorschimmerte. Vorsichtig legte Costanza die tote Viper frei. Beziehungsweise das, was noch von ihr übrig war.
    »Das habe ich mir doch gleich gedacht«, murmelte sie. Vipern konnten fliegen, das wußte jedes Kind. Doch das galt nur für lebende Schlangen. Tote Vipern flogen nicht,sie schlängelten sich nirgendwo hin, sie blieben liegen, wo sie gestorben waren.
    Nein, die Viper hatte Giorgio hier erwischt. Und wenn er nur ein wenig bei Sinnen gewesen war, dann war er nicht anderthalb Stunden zu einer Stelle gelaufen, wo er nichts verloren hatte. Also hatte ihn irgendwer dorthin geschafft.
    Aber warum? dachte Costanza. Sie bückte sich. Schmeißfliegen stoben auf. Costanza packte den Schlangenkadaver am Schwanz und legte ihn in ihren Korb.
    Amtlicherseits blieben keine Fragen offen, und so war Giorgios Leichnam freigegeben worden. Assunta hatte darauf bestanden, ihn im Wohnzimmer der Lucarellis aufzubahren, wo sie die Nacht über wachen wollte. Erst am Morgen sollte er zur Totenmesse in die Kirche gebracht und dann zum Friedhof überführt werden. Eine Aufbahrung zu Hause war in Montesecco längst nicht mehr üblich, doch wenn Assunta es so wollte, kamen natürlich alle, die Sgreccias, die Garzones, die Curzios, Marcantonis und Angiolinis, sogar Matteo Vannoni. Sie warfen einen Blick auf die noch vom Kleister feuchte Todesanzeige an der Anschlagtafel und betraten das Haus der Lucarellis, um ihre Aufwartung zu machen.
    Die Lucarellis saßen stumm an der Nordwand des Wohnzimmers aufgereiht. Der Eßtisch war hinausgeschafft worden. An seiner Stelle stand der offene Sarg, davor flackernde Kerzen und eine Vase mit roten Rosen. Der Tote trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd. Die Hände lagen übereinander und hielten ein kleines Kreuz. Trotz der Schminke, die der Leichenbesorger aufgetragen hatte, wirkte das Gesicht wächsern.
    Die kleinen Kinder klammerten sich an ihre Eltern, erschrocken über die Stille, die sie so gar nicht gewohnt waren, und die Erwachsenen spürten, wie sich eine seltsame Beklemmung in ihnen breitmachte. Je mehr sie sichmühten, im toten Körper dort ihr Bild von Giorgio Lucarelli wiederzufinden, desto weniger gelang es. Was vor ihnen lag, war nicht der Giorgio, mit dem sie gelacht, gestritten und gefeiert hatten. Es war eine Puppe, eine Maske, die ein wenig aussah wie Giorgio Lucarelli. Etwas Fremdes hatte sich in seinen Zügen eingenistet, etwas so ganz und gar Fremdes, daß es die Trauer erstickte, und manch einer fragte sich mit Schrecken, ob er auch so aussehen würde, wenn er an der Reihe wäre.
    Einer nach dem anderen kam und ging und nahm ein Stück Tod mit, ins eigene Haus, wo es weiterwirkte, die Zungen lähmte, die Gespräche erstickte. Auch wenn sich Müdigkeit nicht recht einstellen wollte, ging man früh zu Bett, starrte ins Dunkel über sich und hörte der Stille zu, die in Monteseccos Gassen lag und den gewohnten Grillengesang wie in Watte packte.
    Am Morgen war nur noch eine dumpfe Ahnung davon da, wie sie Träume zurücklassen, deren Bilder schneller verblassen, als man braucht, um wach zu werden. Jeder hatte zu tun, mußte dieses und jenes erledigen, bevor man sich und die Kinder für die Totenmesse in Schale warf. Es war Marta Garzone, die es als erste sah. Sie ließ die Abfalltüten, die sie zum Container am Ortseingang tragen wollte, stehen und verständigte ihren Mann Ivan. Als sie zusammen zur Piazza zurückeilten, stand schon Lidia Marcantoni da und zeigte aufgeregt auf die Anschlagtafel. Neben der Ankündigung der Gemeinde, daß ab sofort aufgrund

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