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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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einen Kopf kleiner. Das Doppel-V von Evviva schien wie ein blutrotes Geweih aus ihrem Haar zu sprießen. Die Lucarellis standen stumm vor ihrer Haustür.
    »Geht ruhig schon mal zur Kirche hoch!« sagte Lidia Marcantoni.
    »Der Pfarrer wollte noch etwas mit euch besprechen, glaube ich.« Marta stieß Ivan in die Seite.
    »Ja, hat er gesagt«, sagte Ivan.
    »Vorhin«, sagte Paolo.
    »Klang ziemlich wichtig«, sagte Ivan.
    »Wir kommen dann nach«, sagte Lidia.
    »Bis gleich!« sagte Marisa Curzio.
    Antonietta Lucarelli musterte den offenen Werkzeugkasten auf dem Pflaster. Sie sah den Spachtel in Ivans Hand. Ein Papierfetzen, auf den schwarze Buchstaben in Kursivschrift gedruckt waren, lag vor seinen Füßen. Ivan lächelte verlegen.
    »Geht zur Seite!« sagte Antonietta und ließ die Hand Sonias los.
    »Es ist nichts von Bedeutung«, sagte Marta.
    »Nichts, worüber man sich aufregen müßte«, sagte Marisa Curzio.
    »Gib uns fünf Minuten, und es ist überhaupt nie dagewesen«, sagte Ivan.
    »Bitte, Antonietta!« sagte Paolo Garzone.
    »Los, bewegt euch!« sagte Antonietta. Paolo ging auf sie zu, doch sie schob ihn zur Seite. Zögernd gaben auch die anderen den Blick frei. Ein Viertel der Todesanzeige fehlte. Vom ausgefaserten unteren Rand hingen Papierfetzen. Darüber höhnten rote Druckbuchstaben: Hoch lebe die Viper!
    Keiner der Lucarellis sagte etwas. Das Schweigen fühlte sich unheimlich an. Für unendliche Augenblicke schien es, als hätte die rote Schrift die Sprache selbst beschädigt, als müsse man erst nach neuen, ganz anderen Wegen suchen, um sich seinen Mitmenschen mitzuteilen. Es war eine Erleichterung für alle, als Assunta sich auf die Türschwelle sinken ließ, die Hände vors Gesicht schlug und zu schluchzen begann. Carlo Lucarelli beugte sich zu seiner Frau hinab und strich ihr unbeholfen übers weiße Haar. Mit einer heftigen Handbewegung wehrte sie ihn ab.
    Der alte Lucarelli richtete sich langsam auf. Mit mühsam beherrschter Stimme sagte er: »Es wird ihr das Herz brechen.«
    »Wieso dieser Haß?« Antonietta sprach zu sich selbst. »Woher kommt dieser unbändige, maßlose Haß? Über den Tod hinaus. Giorgio war kein Engel, alles andere als das, aber ...«
    »Ich schabe das Plakat ab«, sagte Ivan und setzte den Spachtel wieder an. »In fünf Minuten ist es geschehen, und ...«
    »Nein!« krächzte Carlo Lucarelli.
    »... und dann rufen wir in der Gemeinde an, daß sie einen schicken, der hier neu plakatiert ...«
    »Nein!« wiederholte der alte Lucarelli heiser. »Es bleibtso, wie es ist. Alles bleibt, wie es ist. Giorgio wird heute nicht beerdigt. Er wird so lange nicht beerdigt, bis wir den haben, der das verbrochen hat. Ich werde dieses Schwein Buchstaben für Buchstaben ablecken lassen, bevor ich ihm den Schädel einschlage und das kranke Gehirn vor dem Sarg meines Sohnes zerstampfe. Und dann, dann erst wird Giorgio begraben.«
    Ivan ließ den Spachtel sinken. Lidia Marcantoni bekreuzigte sich. Alle spürten, daß Carlo Lucarelli es todernst meinte. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, fingerte den Schlüssel ins Zündschloß seiner Ducati, startete sie mit zwei harten Fußtritten, stieg mühsam auf und fuhr los. Blauer Rauch schwebte über der Piazza, als Lucarelli um die Biegung verschwunden war.
    Kaum eine halbe Stunde später traf der Pfarrer aus Pergola ein. Niemand hielt es für nötig, ihn auf die verunstaltete Todesanzeige aufmerksam zu machen. Zwar glaubte man nicht, daß Carlo Lucarelli einlenken würde, doch konnte und wollte es ihm niemand abnehmen, den Pfarrer selbst über die vertagte Beerdigung zu informieren. Lidia Marcantoni bot sich an, den Geistlichen hinzuhalten, bis der Alte zurückkehrte, und nutzte die Gelegenheit, eindringlich neue Kirchenbänke einzufordern, die es auch betagteren Gläubigen ermöglichten, an der heiligen Messe in gebührender Weise teilzunehmen.
    »Gewiß«, sagte der Pfarrer. »Sobald wir ein wenig Geld zur Verfügung haben, werden wir das anpacken.«
    »Wir brauchen uns nicht wundern, wenn der Kirche die Leute davonlaufen«, sagte Lidia Marcantoni vorwurfsvoll. »Das sind unhaltbare Zustände.«
    »Ja«, sagte der Pfarrer, »das sollten wir nach der Beerdigung genauer ...«
    »Kommen Sie, Hochwürden! Sie müssen sich selbst ein Bild machen!« drängte Lidia und dirigierte den Pfarrer mit sanfter Gewalt zur Kirche hinauf.
    »Aber ich muß noch kurz mit den Hinterbliebenen ...«, protestierte der Pfarrer.
    »Nur einen Moment!« sagte Lidia

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