Die Vipern von Montesecco
deren gedachte Verbindungslinien bald im Glanz von Abermillionen entfernteren Leuchtpunkten versanken. Sobald sich die Augen eingestimmt hatten, schien kaum noch leeres Schwarz im Sternenmeer übrigzubleiben.
Der alte Sgreccia tastete nach dem Radio. Er schaltete es ein. Sanftes Rauschen floß aus dem Lautsprecher undmachte sich zurück auf den Weg in den Weltraum. Mit Daumen und Zeigefinger drehte Benito Sgreccia an der Skaleneinstellung. Er wischte durch die Töne eines Klavierkonzerts, emphatische Werbebotschaften, serbische und albanische Sprecherstimmen, Fetzen von Fußballreportagen, durch die aufgeregten Grüße von Maddalena aus Empoli an Roberto aus Messina, durch Poprhythmen, Predigten und Politikerinterviews. Und immer wieder durch das unendliche Meer des Rauschens, das all diese fernen Welten wie exotische Inseln umspülte.
Als sich von hinten Schritte näherten, tastete der alte Sgreccia nach seinem Stock. Noch bevor er sich aufrichten konnte, hörte er Gianmaria Curzios Stimme, die ihn halblaut anrief: »Wie wäre es mit einem Grappa, Benito?«
»Hm«, sagte Sgreccia und lehnte sich wieder zurück. Er griff nach der Flasche, die ihm Curzio entgegenhielt, setzte an, nahm einen Schluck und gab die Flasche zurück.
»Dein Radio rauscht«, sagte Curzio. Er lehnte sich an das Mäuerchen. Dicht über seinem Kopf standen zwei der Deichselsterne des Großen Wagens.
Benito Sgreccia drehte nach rechts, bis er einen Sender einigermaßen klar eingestellt hatte. Die Stimme der Sprecherin sagte: »... fraglich, ob die zweite Kammer die Immunität des Senators auf Lebenszeit aufhebt. Aufgrund der Aussagen des Mafiakronzeugen Tommaso Buscetta hat die römische Staatsanwaltschaft im April Untersuchungen gegen Giulio Andreotti eingeleitet. Der vielfache ehemalige Ministerpräsident und starke Mann der Democrazia Cristiana wird beschuldigt, den Mord am Zeitungsverleger Mino Pecorelli in Auftrag gegeben zu haben ...«
Sgreccia hustete. Die Partei der Christdemokraten zerbröckelte gerade. Fünfundvierzig Jahre lang hatten sie bestimmt, was in Italien Sache war, und nun lösten sie sich auf. Verschwanden wie eine ausgebrannte Sonne im Weltraum.
»... sagte der Vorsitzende von Rifondazione Comunista, daß mit der Sozialdemokratisierung des PDS die Tradition des ehemaligen PCI nur noch ...«
Und die Kommunisten waren auch weg, hatten sich geteilt und umbenannt. Fünfundvierzig Jahre große Worte und tägliche Kämpfe und hehre Ideale und schmieriges Gebettel, endlich mit an die Macht zu dürfen, und dann: ffft, war die Luft raus, war alles nicht mehr wahr gewesen, kannten sie sich auf den Bildern von vor zwei Jahren nicht mehr, hatten sie die Worte noch nie gehört, die jahrzehntelang die alleinige Wahrheit bedeutet hatten.
»Für mich war die tote Schlange am Tor ein Ablenkungsmanöver«, sagte Curzio. »Der Täter wollte, daß sich niemand die wirklich wichtigen Fragen stellt, weil sich alle den Kopf darüber zerbrechen, was die Viper bedeuten soll. Also fühlt er sich schon in die Enge getrieben. Und das heißt wiederum, daß wir mit der Überprüfung der Alibis auf genau dem richtigen Weg sind.«
»Vielleicht«, sagte Benito Sgreccia. Vielleicht war alles auch ganz anders.
»Milena Angiolini und Marta Garzone sind aus dem Schneider«, sagte Curzio. »Die waren zusammen einkaufen. Ich habe die Kassenzettel mit Datum und Uhrzeit gesehen. Paolo Garzone hat zumindest für den Nachmittag ein Alibi. Da hat er bei einer Hausrenovierung in Bellisio Heizkörper installiert. Ich habe mit einem Elektriker gesprochen, der auch dort war.«
»... sein Sprecher in Tunis wies die Vorwürfe als völlig unbegründet zurück. Nie habe Bettino Craxi vor oder während seiner Amtszeit ...«, sagte die Radiosprecherin.
Und von den Sozialisten war auch nicht viel mehr geblieben als ihre Skandale. Alles ging entzwei, alles zerfiel. Die Parteien, die Politik, ganz Italien. Auch über Montesecco strahlte allenfalls noch der Sternenhimmel wie eh und je. Allerdings sollten ja viele Sterne schon erloschen sein. Nur ihr Licht war noch unterwegs.
»Dein Sohn macht ein wenig Schwierigkeiten«, sagte Curzio.
»Angelo?« fragte der alte Sgreccia.
»Er sagt, es ginge mich überhaupt nichts an, wo er sich an dem Tag aufgehalten habe, und ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern.« Curzio trank aus der Grappaflasche und reichte sie Benito Sgreccia hinab.
»Angelo war für Melli auf Tour. La Spezia und zurück«, sagte Benito
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