Die Vipern von Montesecco
Sgreccia.
»Und wieso sagt er mir das nicht?« fragte Curzio. »Wenn er arbeiten war, könnte er mir das doch sagen. Hast du es nachgeprüft?«
»Giorgio starb am Dienstag, nicht?« sagte Benito Sgreccia.
»Ich will keineswegs behaupten, daß Angelo ...«, sagte Curzio, »aber du solltest mal mit ihm reden und ihm klarmachen, daß wir die Leute nicht zum Spaß ...«
»Marisa sagt, daß ihr am Montag einkaufen wart«, sagte der alte Sgreccia.
»Was?«
»Und zusammen gegessen hättet ihr am Sonntag und am Montag und danach auch wieder. Nur am Dienstag nicht. Da hätte sie nämlich Migräne gehabt und den ganzen Tag im abgedunkelten Schlafzimmer verbracht. Sie glaubt zwar, daß du mal nach ihr gesehen hast, aber das könnte auch erst am Abend gewesen sein«, sagte Sgreccia. Selten hatte er eine so lange Rede gehalten. Das letzte Mal vielleicht bei der Hochzeit von Angelo und Elena, doch damals hatte er sich tagelang darauf vorbereitet. Er hustete.
»Du hast meine Tochter nach meinem Alibi gefragt?« fragte Curzio ungläubig.
»Ihres ist auch nicht sehr überzeugend«, sagte Benito Sgreccia.
»Ich habe mich halt im Tag geirrt. Das kann doch mal passieren!«
»Hm«, machte Benito Sgreccia. »Was war also am Dienstag?«
»Gib den Grappa her!« sagte Curzio. »Fiorella hat recht. Dir tut der Alkohol nicht gut.«
Er nahm dem alten Sgreccia die Flasche aus der Hand, schlurfte durch den Schein der Laterne und verschwand im Dunkel.
»... und nun zum Wetter: Es bleibt unverändert heiß und trocken. Ganz Italien und die Inseln ...«
Benito Sgreccias Hand tastete nach dem Regler des Radios. Er mußte nur ein wenig drehen, um das Rauschen des Weltraums wiederzufinden. Das Universum war irgendwann einmal durch einen großen Knall entstanden. Es flog entweder ewig mit rasender Geschwindigkeit auseinander oder würde wieder in sich zusammenstürzen. Beides war kaum zu glauben, wenn man die Millionen Sterne dort oben funkeln sah. Der alte Sgreccia schloß die Augen, zählte stumm bis zehn und machte die Augen wieder auf. Der Sternenhimmel war noch da.
Man sagt, daß manche Tiere Erdbeben und Vulkanausbrüche vorherahnen und sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, auch wenn keiner weiß, was sie eigentlich warnt. Vielleicht ist das aber nur Aberglauben, und vielleicht zwitscherten an diesem Morgen auch gar nicht so viel weniger Vögel in den Pinien oberhalb der Piazza von Montesecco als an jedem anderen Morgen. Dennoch schien die Welt stiller geworden zu sein. Als halte die Seele des Dorfs inne, um sich auf etwas Ungeheuerliches vorzubereiten.
Ein Erdbeben war nicht zu erwarten, wohl aber ein Kommando der Polizei, dem der Respekt, den Montesecco seinen Toten schuldete, völlig egal war, wenn er mit seuchenhygienischen Grundsätzen in Widerspruch geriet. Daß die Polizisten anrücken würden, war so sicher wie das Amen in der Kirche, aber in welcher Stärke undmit wieviel Entschlossenheit, darüber waren die Meinungen am Abend zuvor weit auseinandergegangen.
Und wenn man den Gegner nicht richtig einschätze, könne man ihn auch nicht besiegen, hatte der alte Marcantoni gesagt, bevor er sich in der ausführlichen Erörterung der Partisanenstrategie im Winter 1943/44 verlor. Immerhin setzte sich seine Auffassung, daß wahre Stärke auf blinden Aktionismus verzichte, durch, und so wurde der Vorschlag Paolo Garzones, die beiden Leichen in einem der leerstehenden Häuser einzumauern, nach heftiger Diskussion abgelehnt. Das Versteck in der Eistruhe schien gut genug. Man einigte sich darauf, abzuwarten und wachsam zu bleiben.
»Devise: Gewehr bei Fuß!« hatte Ivan Garzone gesagt.
Im wörtlichen Sinne galt das für Franco Marcantoni, der seit acht Uhr dreißig auf der Rundbank am Ortseingang saß und seinen Karabiner geladen neben sich lehnen hatte. In jüngeren Jahren hatte er damit manches Wildschwein erlegt, und obwohl er seit längerem darauf verzichtete, durchs Unterholz zu krabbeln, war sein Gewehr gepflegt wie eh und je. Man wußte ja nie, wann man es mal brauchen würde.
Auf dem abgeernteten Feld unten pfiff Luigi nach seinen Hunden. Er begann seine Herde nach Hause zu treiben. Grünfutter gab es nirgends, und für die Schafe wurde es zu heiß. Allen war es zu heiß. Franco Marcantoni sah zu dem Holzkreuz über sich auf, fluchte stumm und drehte den Verschluß seiner Wasserflasche auf. Er nahm einen kleinen Schluck. Das Wasser floß lauwarm durch die Kehle. Marcantoni phantasierte von Eiswürfeln, die immer größer
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