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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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er eigentlich versorgen sollte, das Gehirn zum Beispiel, den Selbsterhaltungstrieb, denn wie sonst wäre es zu erklären, daß Paolo Garzone nicht panisch floh, wie es jeder andere Mensch mit einer Schlangenphobie getan hätte, sondern sich stumm und todesverachtend nach vorne stürzte?
    Abgrundtiefer Ekel und turmhohes Entsetzen verschmolzen zischend und gebaren ungeheuren Haß. Es war der Haß, der den Verstand ausschaltet und jemanden tote Vipern steinigen läßt, bis die eigenen Hände blutig sind. Ein Haß, der nicht beherrschbar war und kein Ziel hatte, als zu zerstören, zu töten, zu vernichten. Koste es, was es wolle, und sei es das eigene Leben.
    Paolo Garzone sprang auf die Vipern los, trat mit seinen Arbeitsstiefeln zu, trampelte unterschiedslos auf lebendes und totes Schlangenfleisch ein, nagelte es aufeinander fest, quetschte die Gedärme aus den Schuppen, hätte nicht aufgehört, bis nur noch ein unförmiger Brei auf den Steinplatten erkennbar gewesen wäre. Doch noch bevor das Zucken unter seinen Sohlen erstarb, stürzte von oben aus dem Korb ein zischendes, schnappendes Gewirre in Medizinballgröße, ein züngelnder gordischer Knoten, ausdem Schwanzspitzen peitschten und der sich, sobald er auf dem Boden auftraf, in einen wild wogenden Teppich verwandelte, der sich von selbst entrollte, Wellen warf, sich aufbauschte an den stampfenden Beinen Paolo Garzones, der jetzt, jetzt erst aufbrüllte wie ein zu Tode verwundetes Tier und mit den bloßen Händen ins Schuppengewirr nach unten griff, um den Vipern, die sich in seine Unterschenkel verbissen hatten, die Giftzähne auszubrechen.
    Doch es war zu spät. Es war auch nicht mehr nötig. Während die letzten Nachzügler aus dem Himmel regneten, entwirrte sich auf dem Boden blitzschnell der Vipernteppich und trennte sich in schlängelnde Fäden auf, die in alle Richtungen ausliefen. Vor Paolo blieben drei tote Schlangen liegen. Er stieß ein gurgelndes Geräusch aus und zermalmte ihre Köpfe unter seinem Absatz. Dann sah er sich um.
    Die restlichen Vipern suchten Schutz in dunklen Ecken, in den Nischen an den Seitenaltären, in dem Beichtstuhl unter der Pala der Madonna mit Heiligen, unter dem Pult für die Lesungen, unter Stühlen, Bänken, Weihwasserbecken, Altarleuchtern, bei den in Terrakottatöpfen gepflanzten jungen Palmen, und zwei oder drei glitten sogar in die offenen Särge der Lucarellis.
    Mit langsamen Schritten ging Paolo den Mittelgang nach vorn. Er schwang sich auf den Hauptaltar und setzte sich. Genau hinter ihm, über der Rückwand des ehemaligen Altars, blitzte die goldene Krone der Himmelskönigin. In einer Apsisnische dahinter hing das Bild der auffahrenden Madonna. Sie trug einen blauen Überwurf über dem roten Kleid und hielt ihre Hände wie zum Lob Gottes erhoben. Um ihren Kopf leuchtete ein Heiligenschein aus Glühlämpchen.
    Bei den Beobachtern auf der Empore wich erst jetzt die Lähmung.
    »Seid ihr total verrückt geworden?« zischte Marta Garzone auf die Marcantonis ein.
    »Das haben wir nicht gewollt«, sagte Lidia erschrocken.
    »Er ist selbst schuld.« Franco versuchte trotzig zu klingen. »Er hätte nur nicht ...«
    »Wir müssen Paolo helfen«, sagte Marisa Curzio.
    »Und zwar schnell!« sagte Marta Garzone.
    »Er ist stark, er wird nicht gleich sterben«, sagte Costanza. Sorgfältig schloß sie den Deckel über dem leeren Weidenkorb.
    Paolo krempelte seine Hosenbeine nach oben. Er hatte zwei Bißwunden am linken Unterschenkel, und eine weitere am Ansatz des rechten Daumens. Er saugte die Wunde an der Hand aus und spuckte auf die Altarstufen. Mit dem linken Arm zeigte er auf die Mitte der Empore.
    »Habt ihr das gesehen?« stieß Paolo hervor. »Habt ihr das alle gesehen? Die verfluchte alte Hexe und ihre Geschwister wollen mich umbringen. Und nicht nur mich! Sie waren es, sie haben die Vipern in Montesecco ausgesetzt. Euch alle wollen sie umbringen, die Kinder, die Frauen, dich hat schon eine gebissen, Vannoni! Und ihr steht jetzt da oben bei ihnen und gafft herunter und seht schweigend zu, wie ich eingehe, eingesperrt in einer Kirche, in der Hunderte von Giftschlangen nur darauf warten, daß ich ...«
    »Es sind vierundsechzig«, sagte Costanza.
    »Wir mußten zeigen, daß er die Schlange in Menschengestalt ist«, sagte Lidia entschuldigend.
    »Gib mir den Kirchentürschlüssel!« sagte Marta Garzone. Lidia schüttelte stumm den Kopf und bekreuzigte sich.
    »Wir können ihn doch nicht sterben lassen«, sagte Marisa

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