Die Vipern von Montesecco
Rechenschaft verlangen.
»Wir werden Paolo nicht sterben lassen. Keinesfalls«, sagte Marta Garzone leise, und jeder begriff, daß auch sie umschwenkte. Zumindest verlangte sie nicht mehr, ihm sofort Hilfe zu leisten.
Die Stimmung war gekippt, doch noch konnte sich niemand überwinden, das erste Wort auszusprechen und Paolos Verhör fortzusetzen. Vielleicht lähmte sie aber auch die Ahnung, daß ab diesem Moment nichts mehr rückgängig gemacht werden konnte. Denn nun trugen sie alle die Verantwortung. Paolo so zu behandeln war nur gerechtfertigt, wenn er als Mörder überführt werden konnte. Falls sich aber seine Unschuld erweisen sollte, wären nicht nur die Marcantonis, sondern ganz Montesecco am Ende. Man hätte sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können.
Matteo Vannoni entschied sich als erster, dieses Risiko in Kauf zu nehmen. Vielleicht, weil er das in seiner eigenen Lebensgeschichte schon einmal überlebt hatte, vielleicht auch nur, weil er als immer noch mißtrauisch beäugter Rückkehrer am wenigsten zu verlieren und am meisten zu gewinnen hatte.
Vannoni sagte: »Als du mich nach meinem Vipernbiß ins Krankenhaus fahren wolltest, Paolo, da ging ich auf die Beifahrertür deines Lieferwagens zu, und du sagtest: ›Nein, hinten hinein! Es ist besser, wenn du flach liegst.‹ Das mag ja auch so sein, je ruhiger man liegt, desto langsamer breitet sich das Gift aus. Aber als ich dann in demLaderaum lag und du die Türen zuschlugst, so daß nur noch durch die kleine Luke zur Fahrerkabine ein wenig Licht hereinfiel, und als ich das Brummen des Motors spürte und langsam die Orientierung verlor, wann wir wo abbogen, da dachte ich mir: Genau so hätte es gewesen sein können! Giorgio Lucarelli war gebissen worden, du hast dich angeboten, ihn zum Arzt zu fahren, hast ihm geraten, sich hinten im Laderaum flach zu legen, und dann hast du die Tür versperrt und ihn an irgendeinen abgelegenen Platz gefahren. Als er merkte, was los war, hat er verzweifelt versucht, aus dem Wagen zu kommen, und sich dabei die Platzwunde zugezogen. Und du hast ihn so lange um Hilfe rufen und am Blech kratzen lassen, bis er tot war.«
Paolo schien gar nicht richtig zugehört zu haben. Er zuckte bei der kleinsten Bewegung zusammen, die sein in jeder Ecke stöbernder Blick wahrnahm. Fast nebenbei sagte er: »Ja, so hätte es gewesen sein können, aber so war es nicht.«
»Wie war es dann?«
»Ich war an jenem Nachmittag arbeiten. In Bellisio Alto. Dafür gibt es Zeugen.«
Auf der Empore hüstelte der alte Sgreccia.
»Willst du, oder soll ich?« fragte der alte Curzio halblaut.
»Mach nur!« sagte der alte Sgreccia.
»Also«, sagte der alte Curzio. Er stellte sich in Positur und reckte einen Stapel Karteikarten nach oben. »Wir haben ja alle Alibis überprüft, was manchmal nicht so einfach war, weil einige von euch ...«
»Es geht um Paolo«, warf der alte Sgreccia ein.
»... weil einige von euch den Ernst der Angelegenheit verkannt und nicht mit der gebotenen Genauigkeit auf unsere Fragen geantwortet haben, so daß wir erst nach langwierigen Überprüfungen entscheiden konnten, ob einer bewußt gelogen hat oder nur ...«
»Der Elektriker sagte nämlich ...«, unterbrach Sgreccia.
»Das kapiert doch keiner, wenn du mittendrin anfängst«, fuhr ihn Curzio an. »Es ist nämlich so, daß Paolo die Wahrheit sagt und doch nicht die Wahrheit sagt, zumindest nicht die ganze Wahrheit und vor allem nicht den Teil der Wahrheit, der ...«
»Und das soll einer kapieren?« zweifelte Sgreccia.
»Darf ich jetzt mal ausreden?« fragte Curzio.
»Natürlich«, sagte Sgreccia. Er hustete.
Curzio sah ihn entrüstet an und wartete ein paar Sekunden, ob noch etwas folgen würde. Dann fuhr er fort: »Paolo Garzone hat für den fraglichen Nachmittag ein hieb- und stichfestes Alibi, doch sein Wagen hat keines.«
Gianmaria Curzio warf einen mißtrauischen Blick zur Seite. Benito Sgreccia betrachtete interessiert den Knauf seines Spazierstocks.
Curzio blätterte in seinen Karteikarten, zog eine hervor und las: »Der Elektriker Gigi Gregori aus San Michele gibt zu Protokoll, von circa vierzehn Uhr dreißig an zusammen mit Paolo Garzone bei der Renovierung eines Hauses in Bellisio Alto gearbeitet und ihn gegen siebzehn Uhr dreißig bis zur Abzweigung nach San Vito mitgenommen zu haben. Während dieser drei Stunden habe Paolo Heizkörper montiert und sich keinesfalls länger als ein paar Minuten von der Baustelle ...«
»Paolo war also ohne
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