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Die Vipern von Montesecco

Die Vipern von Montesecco

Titel: Die Vipern von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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einem großen Korb, den sie vor der Balkonbrüstung abgestellt hatte.
    Bei einem flüchtigen Blick von unten hätte man an ein Theaterpublikum denken können, das auf den billigen Stehplatzrängen mehr oder minder gelangweilt den Beginndes Stücks erwartete, doch dieser Eindruck täuschte. Es lag etwas in der Luft, eine Spannung, mit der man nicht so sehr unvorhersehbaren Entwicklungen entgegenfieberte, sondern die statt dessen die Befürchtung widerspiegelte, daß sich gerade die schlimmstmögliche Ahnung bewahrheiten würde. Allen war klar, daß sie sich nicht aufs Zusehen beschränken konnten. Man stand über der Sache, gewiß, doch nicht als Publikum, eher als ein Geschworenengericht, dessen Mitglieder noch nicht ganz sicher waren, welche Rolle sie zu spielen hatten und ob nicht einer von ihnen im Lauf der Verhandlung vom Richterstuhl in den Zeugenstand und von dort auf die Anklagebank durchgereicht werden würde.
    Costanza Marcantoni stützte sich auf ihren Korb und nickte ihrem Bruder Franco zu.
    »Angelo?« rief Franco nach unten.
    Angelo Sgreccia beugte sich zum rechten Sarg hinunter, hob den Deckel an und legte ihn zur Seite hin ab. Auf Carlo Lucarellis eingefallenem Gesicht standen Wassertropfen. Schweiß und Tränen, dachte man unwillkürlich, und für einen kleinen, schrecklichen Augenblick war man sich sicher, daß der Alte gleich die Augen aufschlagen, sich aufrichten und über das armselige Leben klagen würde, das ums Verrecken nicht enden wolle. Doch nichts dergleichen geschah. Es schmolzen nur die Eiskristalle, die sich in der Kühltruhe gebildet hatten.
    Angelo öffnete den zweiten Sarg. Giorgio Lucarellis bleiche Hände waren über der Brust gefaltet.
    »Mach seinen Arm frei, so daß man die Bißwunde sieht!« befahl Franco Marcantoni von oben. Seine Stimme hallte dumpf im Kirchenschiff wider.
    Angelo schob den Ärmel des schwarzen Anzugs zurück und öffnete den Hemdknopf über dem Handgelenk des Toten. Von der Empore aus waren die Bißmale nur zu erahnen, doch daß kein Blut aus ihnen quoll, war offensichtlich. Angelo richtete sich auf.
    »Aberglauben! Ich habe es ja gleich gesagt«, sagte Marisa Curzio.
    »Keiner hat ihm geglaubt, aber er ist tatsächlich unschuldig«, sagte Fiorella Sgreccia.
    Assunta Lucarelli lachte höhnisch auf.
    »Gott wird uns den Richtigen zeigen«, sagte Lidia Marcantoni. »Wir machen weiter. Jeder von uns muß da unten vorbeigehen.«
    »Die Reihenfolge losen wir aus.« Franco Marcantoni zog einen Füllfederhalter hervor. Er kramte in seinen Taschen vergeblich nach Papier, nahm dann ein Gesangbuch, das auf der Brüstung lag, und riß ein Dutzend Seiten heraus. Auf jedes Blatt schrieb er einen Namen, bevor er es zweimal faltete. Als er fertig war, legte er die Lose auf den Weidenkorb und forderte Assunta auf, eines zu ziehen. Die Alte schüttelte stumm den Kopf.
    »Dann du, Milena!« sagte Franco.
    Milena Angiolini faltete eines der Lose auf und las den Namen vor: »Paolo Garzone.«
    »Das ist doch ...«, sagte Paolo.
    »Jeder kommt dran«, sagte Milena.
    »Laß sehen!« Paolo ließ sich den Zettel mit seinem Namen geben, starrte darauf und zerknüllte ihn zwischen seinen Pranken. Dann stapfte er die Treppe hinab.
    Als er unten ins Kirchenschiff trat, öffnete Milena Angiolini das zweite Los. Über den Notenlinien von »Resta con noi, Signore, la sera« war in Francos krakeliger Schrift der Name Paolo Garzone zu lesen.
    »Was ...?« fragte Milena Angiolini. Franco legte den Zeigefinger über die Lippen. Mit einem Schlüsselbund in der Hand huschte Lidia Marcantoni die Treppe hinab. Im Kirchenschiff bog Paolo aus dem Mittelgang nach links. Vor den Särgen blieb er stehen und bekreuzigte sich bedächtig. Der Unterarm Giorgio Lucarellis schimmerte wächsern. Der offene, zurückgeschlagene Hemdsärmel stellte eine kleine Störung der Ordnung dar, die aus irgendeinemGrund empörend wirkte. Man hätte sich fast gewünscht, daß quellendes Blut sie rechtfertigte, doch nicht der kleinste Tropfen trat aus.
    Milena Angiolini entfaltete einen weiteren Zettel. Auch auf ihm stand »Paolo Garzone«.
    »Was soll das bedeuten?« fragte Milena, während sich Paolo unten von den Leichen abwandte.
    Franco Marcantoni antwortete nicht. Seine Augen waren halb zugekniffen.
    »In Gottes Haus kommt alles ans Licht«, sagte Lidia Marcantoni, als sie von der Treppe aus wieder die Empore betrat.
    »Und die Schlangen werden dabei helfen«, sagte Costanza Marcantoni. Plötzlich hielt sie eine tote

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