Die Vipern von Montesecco
Curzio.
»So, wie er meinen Sohn hat sterben lassen, meinst du?« Assunta Lucarelli schlug mit der Hand auf die Balustrade. »Warum denn nicht? Wir sollten uns ein Beispiel an ihm nehmen. Zusehen, wie er bei Giorgio zugesehen hat. Beobachten, wie ihn das Gift langsam lähmt, wie es sein erbärmliches Leben von innen her auffrißt. Ich kann mirkeinen schöneren Anblick vorstellen, und ich werde gellend lachen, wenn er das Bewußtsein verliert, und dieses Lachen wird alles sein, was er von dieser Welt in die Hölle mitnimmt.«
»Hör auf!« sagte Fiorella Sgreccia. »Du hast erst Catia einen grausamen Tod gewünscht, dann meinem Sohn und jetzt ihm. Wann soll denn mal Schluß sein? Willst du uns alle tot vor dir liegen sehen und unsere Leichen verfluchen?«
Assunta wandte sich ihr zu. Ihr Gesicht war wie aus Stein. Kalt sagte sie: »Es wäre ein Anfang.«
»Gib mir den Schlüssel!« wiederholte Marta Garzone.
»Paolo wird nicht sterben«, sagte Franco Marcantoni. »Im Gegensatz zu Giorgio kann er sich selbst retten. Er braucht nur zu reden. Das ist alles.«
»Du mußt nur deine Sünden bereuen, Paolo«, sagte Lidia.
»Und gestehen«, ergänzte Costanza.
»Paolo?« fragte Franco.
Paolo ließ den ausgestreckten Arm sinken. Sein Blick irrte umher, spürte einen grauen Schatten auf, der sich unter dem rechten Seitenaltar zusammenrollte, einen anderen, der das Holz des Beichtstuhls emporglitt. Er sah, wie sich der Deckel neben Giorgios Sarg bewegte. Unwillkürlich zog er die Beine an. Er hockte auf dem Altar und strich mit seiner linken Pranke über die Bißwunden am Unterschenkel. Er sagte: »Gut, ich gestehe. Ich gestehe alles, was ihr wollt. Ihr glaubt doch nicht, daß solch ein Geständnis für irgendein Gericht der Welt zählt! Aber ich gestehe. Und jetzt laßt mich hier heraus!«
»Wie hast du es getan?« fragte Franco.
»Warum, um Gottes willen, hast du es getan?« fragte Lidia.
»Was weiß denn ich?« Paolos Stimme gluckste vor Lachen. »Sagt mir, was ich gestehen soll, und ich gestehe es!«
»So geht das nicht.« Costanza schüttelte den Kopf und blickte nach links und rechts an der Brüstung entlang. Sie und ihre Geschwister hatten die Initiative ergriffen, sie hatten Paolo Garzone auf die Anklagebank gesetzt, ja, sie hatten sich auf ihn als Täter festgelegt, und sie würden verantwortlich gemacht werden, wenn er – schuldig oder unschuldig – an den Vipernbissen starb. Doch es war keine Privatfehde, die sie mit ihm ausfochten. Das erkannten alle, auch Marta Garzone und Marisa Curzio, die sich besonders eingesetzt hatten für Paolo, der unten irre kicherte, daß er gern auch die Serienmorde von Florenz gestehen würde und alle unaufgeklärten Bombenattentate der Neofaschisten, und ob sie denn sicher seien, daß Kain seinen Bruder Abel erschlagen habe und nicht er, Paolo Garzone.
Die Marcantonis riskierten viel, vielleicht zuviel, doch wer sonst hätte es tun sollen? Sie waren alt, hatten noch ein paar Jahre vor sich und würden dann hier sterben. Wenn das letzte der Geschwister begraben war, würden ihre Häuser verfallen. Keiner wäre da, um ihnen Blumen ans Grab zu stellen, denn Lidias Kinder hatten Montesecco schon vor Jahrzehnten den Rücken gekehrt, und die beiden anderen hatten keine Nachkommen. Es gab keine Familie, auf die sie Rücksicht nehmen mußten. Sie trugen für nichts und niemanden Verantwortung. Es sei denn für ganz Montesecco, in dem sie ihr Leben verbracht hatten und dessen Ordnung nun in den Grundfesten erschüttert war. Nach ihrem Tod mochte das Unterste zuoberst gekehrt werden, doch bis dahin wollten sie in der Welt leben, die sie kannten. Und dafür mußte ein für allemal Klarheit geschaffen werden, damit ein Zusammenleben in gegenseitigem Vertrauen wieder möglich wurde.
»Jetzt oder nie«, sagte Costanza Marcantoni dunkel. Zwei, drei Köpfe nickten, dann immer mehr, denn ein kleines Dorf wie Montesecco konnte vielleicht einen Mörder in seinen Mauern verkraften, aber sicher keinen unaufgeklärten Mord. Es ging nicht um Rache, kein Auge umAuge, Zahn um Zahn, es ging darum, zu wissen, was geschehen war. Der Mörder mußte zum Geständnis gezwungen werden, um die Gemeinschaft wiederherzustellen, und deshalb bedurfte es einer gemeinschaftlichen Anstrengung. Die Marcantonis hatten genug getan, jetzt waren andere an der Reihe. Man mußte den Druck erhöhen. Auch Paolo sollte spüren, daß es nicht an der Zeit für Sprüche und Ausflüchte war. Das ganze Dorf würde nun von ihm
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