Die Virus-Waffe
Stunde
verfügte er über die gleichen Informationen, die Mulligan
dem Zeitungsartikel entnommen hatte.
Allerdings wartete der SIS-Beamte nicht auf die übliche
Sammelverschlüsselung aller anfallenden E-Mails, die kurz
vor Dienstschluss nach Vauxhall Cross gesendet wurden,
sondern schickte eine verschlüsselte E-Mail mit hoher Pri-
orität an den SIS in London sowie eine Kopie an seinen
Kontaktmann auf Kreta.
In London wurde die Mail dechiffriert, ihr Herkunftsort
identifiziert. Danach wurde sie automatisch in den elekt-
ronischen »Posteingang« des Chefs der Abteilung Westli-
che Hemisphäre geleitet. Er überflog sie kurz, kopierte sie
für seinen Stellvertreter und hängte eine deutliche Auffor-
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derung zur sofortigen Ermittlung und Berichterstattung
an.
Neunzig Minuten nachdem die Mail in Vauxhall Cross
eingetroffen war – und zehn Minuten nachdem er vom
Flughafen Heathrow in Hammersmith angekommen war –,
hielt Richard Simpson einen Ausdruck davon in der Hand,
der mit einem Ermittlungsersuchen des SIS versehen war.
Simpson hasste Computer und sperrte sich dagegen, ein
Terminal in sein Büro zu lassen. Das bedeutete, jede Nach-
richt an die Foreign Operations Executive musste ausge-
druckt und ihm präsentiert werden. Das verursachte eine
Menge zusätzlicher Arbeit und entsprechenden Unmut
unter seinen Angestellten, aber da Simpson Direktor des
FOE war, konnten sie nicht viel dagegen tun, außer in der
Kantine darüber zu meckern.
»Typisch für den verdammten Six«, knurrte Simpson
gereizt zu niemandem im Besonderen, da sein Büro leer
war. Er legte den Ausdruck weg, schaute auf seinen Tisch-
kalender, nahm den Hörer ab und drückte drei Tasten für
eine interne Nummer.
»Simpson«, sagte er, als auf der anderen Seite jemand
abhob. »Kommen Sie bitte hoch.«
Der Direktor der Abteilung Aufklärung marschierte vier
Minuten später in Simpsons Büro und setzte sich ihm ge-
genüber auf einen Stuhl.
»Haben Sie das schon gesehen?« Simpson schob ihm
den Ausdruck hin.
Der Mann warf einen kurzen Blick darauf und nickte.
»Ja. Es könnte sich um einen schlimmen Ausbruch der
Asiatischen Grippe handeln, aber das bezweifle ich. Ich
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frage mich, ob es möglicherweise ein Test von biologi-
schen Kampfstoffen sein könnte. Unsere naheliegendste
Sorge ist, dass El Kaida oder eine andere Terroristengrup-
pierung möglicherweise eine biologische Massenvernich-
tungswaffe entwickelt haben könnte, mit der sie auf Kreta
eine Art Testlauf durchführen. Das erinnert mich ein biss-
chen an die Aktion der Aum-Sekte in Japan.«
Simpson wirkte gereizt. Er hatte großen Respekt vor
dem umfassenden Wissen seines Kollegen von der Aufklä-
rung, aber dessen pedantische und häufig unvollständige
Antworten gingen ihm auf die Nerven. Obwohl er natür-
lich die Einzelheiten dieses Anschlags in Tokyo ebenfalls
kannte.
Im März 1995 verübte die Aum-Sekte einen Giftgasan-
schlag mit Sarin auf die Tokyoter U-Bahn, am Montag-
morgen mitten in der Rushhour. Ihr Kopf war Shoko Asa-
hara, ein halb blinder und mehr als nur halb wahnsinniger
Mann. Zwölf Menschen starben bei dem Anschlag, und
mehr als fünfeinhalbtausend mussten zur ärztlichen Be-
handlung in ein Krankenhaus. Die relativ geringe Anzahl
an Todesopfern wurde auf die Unreinheit des Sarin-
Nervengases zurückgeführt, das die Sekte selbst hergestellt
hatte. Wegen des engen Raumes und dem Mangel an fri-
scher Luft in der U-Bahn wäre die Zahl der Toten auf meh-
rere hundert oder gar tausend gestiegen, wenn die Sekte ei-
ne reine Variante benutzt hätte.
»Und was genau hat der Gasangriff in Tokyo mit einer
Virusinfektion auf Kreta zu tun?«, wollte Simpson wissen.
»Es gibt keine direkte Verbindung, aber das Muster ist
ähnlich. Es ist nicht allgemein bekannt, aber diese Aum-
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Sekte hat vor ihrem Anschlag in Tokyo mit dem selbstpro-
duzierten Saringas einen Test auf einer abgelegenen
Schaffarm im tiefsten Outback von Australien durchge-
führt. Es war ein recht kostspieliger Test, denn allein die
Farm hat sie hunderttausend australische Dollar gekostet.«
»Todesopfer?«
»Neunundzwanzig Schafe, aber keine Menschen. Weil
die einzigen Menschen in der Gegend Aum-Leute waren,
die Schutzanzüge getragen haben. Trotz der Unreinheit
des Gases bewies dieser Test in Australien die tödliche Wir-
kung ihres selbstproduzierten Sarins. Mehr wollte Asahara
gar nicht wissen. Die Aum-Sekte gibt es
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