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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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erschöpft und zu wund, als daß es mich gekümmert hätte, wie unmöglich mein Kleid aussah, während wir schweigend dahinritten, um am Ufer wieder auf die Straße zu stoßen. Dort jedoch, am Flußufer, bot sich uns ein gräßlicher Anblick. Das ausgebrannte Wrack eines der Schleppkähne, die uns voraufgezogen waren, trieb mit der Strömung flußabwärts. Es geriet in die Strudel und verfing sich einen Augenblick lang an einem Feldvorsprung, ehe es unseren Blicken entschwand. Doch in diesem Augenblick hatten wir alle mehr gesehen, als uns guttat. Auf dem verkohlten Wrack sichteten wir die abgehackten Gliedmaßen von entkleideten Leibern, die so unanständig angeordnet waren, daß sich meine Feder selbst jetzt noch sträubt. Und am Bug des Schleppkahns hatte man wie ein gräßliches Zerrbild von einer Gallionsfigur einen abgeschlagenen Kopf angebracht. Die Züge waren nicht mehr zu erkennen, doch oben auf dem Kopf saß eine Art Nachbildung einer Bischofsmitra aus Pergament. Wasserspritzer hatten bewirkt, daß sie nicht verbrannt war, doch die Tinte lief in großen, schwarzen Rinnsalen übers Gesicht. An der Schläfe des gräßlichen Kopfes baumelte ein Siegel wie ein Blutklumpen. Der päpstliche Gesandte. Ohne Peregrin würden auch wir unbestattet auf den eilenden, grünen Fluten dahintreiben.
    »In der Regel dürften das englische Truppen gewesen sein«, sagte Gregory ruhig zu seinem Bruder.
    »Du hast recht. Dieses eine Mal waren wir es nicht. Unsere Leute vergeuden keinen Schleppkahn. Das waren nicht Hawkwood oder die Gascogner; die würden ihm keinen Hut aufgesetzt haben.«
    »Und sie hätten auch nicht auf das Lösegeld für einen Mann vom Rang eines päpstlichen Gesandten verzichtet.«
    »Wahrscheinlich lagern sie immer noch betrunken von ihrer Siegesfeier weiter flußaufwärts«, sagte Hugo so ungerührt, als ob er sich übers Angeln unterhielte.
    Und auf diese Weise erfuhren wir, daß der Erzpriester mit einem Heer aus dreitausend Söldnern und Abenteurern das Rhônetal hinuntermarschierte, auf die größte Beute der Christenheit zu: die Papststadt Avignon.

    Über die darauffolgenden Tage möchte ich nicht schreiben, denn in meiner Erinnerung verschwimmen sie so sehr, daß sie einer oder tausend sein können – ich entsinne mich wirklich nicht mehr, obwohl man mir hinterher berichtet hat, es wären sieben gewesen. Wir verließen das Flußufer und schlugen uns tief hinein in das zerstörte Land, machten einen Bogen um die furchtbare Räuberstreitmacht. Wir sichteten sie nicht, außer daß wir einmal in der Ferne eine Rauchsäule ausmachten. Aber ihr Zerstörungswerk sahen wir überall: Verbrannte Obstgärten, bis zum Boden abgeholzt, die Ruinen von Klöstern, Dörfern und Kirchen. In diesem toten Land gab es nichts mehr, überhaupt nichts. Als eines der Pferde lahmte, waren die Männer so hungrig, daß sie ihm die Kehle durchschnitten, das Fleisch von den Rippen säbelten und es auf der Stelle roh aßen, denn wir hatten Angst, ein Feuer zu machen. Als meine Arme erlahmten, band ich mir den Kleinen vor die Brust. Und als ich nicht mehr sitzen konnte, banden sie mich im Sattel fest. Aber immer ritt Gregory neben mir, schweigsam und aufrecht führte er die Stute. Und jetzt zehrte ich von seinem Überlebenswillen; mein Mann, meine Kraft, mein Schutz und Schild.
    Des Nachts schlief er mit gezogenem Schwert neben uns, neben dem kleinen Pilger und mir. Wir lernten, uns wortlos zu verständigen, denn was er dachte, das dachte auch ich, und wir konnten gemeinsam handeln, ohne daß ein einziges Wort zwischen uns fiel. Eines Nachts wachte ich auf, denn ich hatte einen kurzen, erstickten Schrei gehört, und da war die Decke neben uns leer. Gregory hatte jemanden überrascht, den es vom Heer des Erzpriesters verschlagen hatte, war ihm in den Rücken gefallen, als er auf unser Lager zugekrochen kam, und hatte ihm den Kopf abgeschlagen, ehe sein Bruder auch nur das Schwert ziehen konnte. Von der Beute, mit der der Mann beladen war, hätte man gut und gern einen Ritter freikaufen können, doch der Mann trug Kinderhände an einer Schnur aufgereiht, die sie schnell verscharrten, damit ich sie nicht zu Gesicht bekam. Aber natürlich gab es nichts, was ich nicht früher oder später auch erfuhr, denn unsichtbar für sie umwehte uns immer noch die Weiße Dame, wenn auch recht durchscheinend und formlos. Ein ums andere Mal hörte ich sie in der Dunkelheit wispern, schließlich mußte sie mir ihre Meinung und ihre Anmerkungen zu

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