Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Oranierin und ihres Gefolges schlossen sich an, die Nachhut bildeten Seraphs verwegene Kämpfer, unter ihnen Tringin. Im Schutz der Dunkelheit verließ man Brüssel. Knapp zwei Tage und zwei Nächte würde die Reise ins Kurkölnische dauern. Zwei Tage und zwei Nächte, in denen Lazarus’ Ungeduld beständig wuchs. So viele Hindernisse und Widerstände hatte er überwunden, so viele Menschen von der Dringlichkeit der Reise überzeugt, doch er hegte Zweifel, daß seine Überzeugungskraft genügen würde, um Columba für sich zu gewinnen.
Wolken zogen den Reitern nach, wie einen wüsten Traum ließen sie die gärenden Niederlande hinter sich. Am dritten Morgen sahen sie von Ferne den Domturm in der Ebene aufragen, am Leprosenhospiz von Melaten vorbei näherte sich ihr Zug der Stadt.
»Köln!« rief Lazarus erfreut.
»Köln«, wiederholte nachdenklich sein Feldhauptmann. Er wandte das Gesicht seinem jungen Begleiter zu. »Besser, du machst nun eine Rast, in Kürze erreichen wir den Bannkreis der Stadt.«
Lazarus packte ihn beim Arm. »Du mußt mich noch heute nacht in die Stadt hineinbringen.«
Tringin schloß zu ihnen auf. Mit stillem Ernst musterte sie von unten her den aufgeregten Lazarus. Sie schluckte: »Wenn du dich hineinwagst, will auch ich dir folgen.«
Der Feldhauptmann seufzte. »Die Liebe ist eine wahrhaft törichte Angelegenheit. Wenn ich es recht verstehe, ist es euer beider Untergang, wenn ihr in der Reichsstadt aufgegriffen werdet.«
4
A benddämmerung setzte ein, die Luft wurde merklich kühler, vom Rhein wehte ein kräftiger Wind über die Stadtmauern und strich durch das Geäst knospender Obstbäume und Weinranken.
Fröstelnd schlug Columba den grauen Umhang ihrer Tracht fester um sich. Die Haube hatte sie sich tief in die Stirn gezogen. Niemand beachtete die graue Gestalt, die durch die Severinstraße, vorbei an Lust- und Weingärten, einem ummauerten Grundstück nahe der Stadtmauern zueilte. Wenn es nur Sommer wäre, dachte das Mädchen verzweifelt. Wenn wenigstens die Obstbäume schon Früchte trügen. Hunger plagte sie. Das wenige Geld, das sie in den Taschen gehabt hatte, als sie Mertgin und dem Knecht beim Alter Markt entschlüpft war, war seit zwei Tagen verbraucht. Den letzten Bissen Brot hatte sie am Morgen gekaut.
Erschöpft vom langen Laufen, dem Herumirren in Kölns Gassen, erreichte sie ein geschmiedetes Tor. Ein eiserner Adler, der ein Bündel Blitze in den Klauen trug, saß obenauf. Columba warf dem Wappentier der van Gelderns einen müden Blick zu. Sie drückte sich gegen das Tor, doch es war fest verschlossen. Trotzdem, sie konnte nicht zurück in das Haus im St. Alban-Viertel. Der Vater hatte alles getan, um sie aus dem Konvent herauszuholen, und nun wollte er nicht mehr zögern, sie dem Freiherrn van Ypern anzuvermählen.
Vorbei wäre es dann mit den Besuchen bei Rebecca. Vorbei mit jeder Hoffnung auf deren Befreiung. Vorbei mit ihrem Seelenfrieden. Nein, den Verlust der Tante würde sie nicht mehr ertragen können. Nicht, nachdem schon Lazarus ... Sie umklammerte die kalten Gitterstäbe des Tores und drückte ihr Gesicht dagegen. Was war dagegen der Verlust eines Vaterhauses, in dem sie niemand liebte?
Und doch, alleine, auf sich gestellt, war es ihr unmöglich, lange zu überleben. Schmählich hatten ihre heutigen Versuche der Bettelei geendet. Alle guten Plätze – vor den Kirchen, vor den Klöstern und dem Dom – waren vom Bettelvogt der Stadt verteilt an die Stadtarmen, die Findelkinder und die Leprakranken von Melaten. Wer kein Bettelzeichen, keine Lepraklapper trug, wurde von den Konkurrenten angezeigt und von Bütteln des Vogts rasch aufgegriffen. Turmhaft stand auf unerlaubte Bettelei, Kax – wie man in Köln den Pranger nannte – und Rutenschläge oder, in ihrem eigenen Fall, die gewaltsame Rückführung in das Haus des Vaters.
Columba preßte ihre Stirn so fest gegen die harten Stäbe, daß es schmerzte. »Aber ich kann nicht zurück«, flüsterte sie, »ich kann nicht.«
Sie löste sich vom Tor, sie kannte einen anderen Weg in den Garten – ein Loch in der Mauer, an der Rückseite. Ein Loch, das im vergangenen Sommer die Wiedertäufer benutzt hatten, um im Kelterhaus ihre heimlichen Konventikel zu halten.
Columba raffte die Röcke und lief um die Mauer des weitläufigen Geländes herum. Tatsächlich, niemand hatte die Öffnung, die herausgebrochenen Ziegel, bislang entdeckt und verschlossen.
Das Mädchen zwängte sich geduckt durch den Spalt.
Weitere Kostenlose Bücher