Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
der Ausdruck des Gesichts war ganz nach der Natur. Die schreckensweiten Augen, der zum Schrei geöffnete Mund trugen ganz ihre Züge. Aber das Blut auf ihrer Stirn ... das eingeschnittene Kreuz, man sah bloßes Fleisch, die Schädelknochen. Dazu diese Teufelsfratze hinter ihrem Körper. Wer gab ihr nur seit wenigen Nächten diese Bilder ein? Begonnen hatte sie einen hübschen Teppich zur Verherrlichung von Mariä Verkündigung, doch nun arbeitete sie in nächtlicher Trance an einem ganz und gar anderen Bild.
Warum wurde sie immer wieder bezwungen von dieser Lust an der Grausamkeit? War es die Grausamkeit ihrer eigenen Seele? Sie betrachtete die unvollendete Himmelsgestalt, die über allem schwebte: den Nachtgeistern, den Nonnen mit Teufelsfüßen, den lüsternen Predigern mit Bockshörnern, den Kaufleuten mit Trichterhauben und Katzenschwänzen, den beflügelten Ratsherrn. Alle Gestalten hatten vertraute Gesichter. Auch die Teufelsfratze hinter dem toten, schreienden Frauengesicht. Eine Tote schrie nicht. Rebecca schlug das Tuch zurück, als brenne der Stoff in ihren Händen.
Unter ihr wurde wieder das Klappern der Webstühle laut. Die Mitschwestern hatten das Mittagsgebet ebenfalls beendet und setzten ihre Arbeit an den von den Dominikanern bestellten Meßgewändern fort. Zeit hinabzugehen und sich dem Tagwerk zu widmen. Die Konvents-Meisterin zögerte. Erinnerung an das Fieber der vergangenen Nacht hielt sie zurück, an Träume von Tod und Verdammnis. Die immer gleichen Gesichter in Qual und Zorn verzerrt. Häßliche Fratzen, monströse Handlungen, widerwärtige Ausschweifungen, Dämonie der Seele. Der Teppich hielt alles mit erbarmungsloser Genauigkeit fest.
Columba, Juliana, ihr Schwager Arndt, die Schwester Katharina, der Diakon von St. Alban, der ihr Beichtvater war. Sie sträubte sich, die Namen zu denken, aber sie buchstabierten sich von selbst.
Schweiß trat auf ihre Stirn. Zögernd näherte sie sich wieder dem Abdecktuch, faßte nach einem Zipfel und atmete tief ein. Ein Klopfen hielt sie davon ab, das Tuch erneut herabzureißen. Wie ertappt wirbelte sie herum und rief heiser: »Tritt ein!«
Es war die Schaffnerin Anna, Pfennigmeisterin und Buchhalterin des Konvents. »Liebe Magistra, eine Magd aus dem Hause van Gelderns wartet unten. Sie bittet um dein Kommen, es scheint, deine Schwester fühlt sich unwohl.«
Sie begleitete ihre Worte mit einem breiten Lächeln, das ihrem Gesicht nicht bekam. Es war ein Gesicht von derbem Reiz, kräftig in seinen Farben, rot und weiß, die Augen von kaltem Blau, der schmale Mund grausam. Annas Blick heftete sich fest auf den Stickrahmen. In ihren Augen flackerte kurz ein Ausdruck wissender Schläue auf, der Rebecca widerlich war. Sie ahnte, daß Anna ihre Neugier nicht immer zu zügeln wußte.
»Es ist gut«, sagte Rebecca schroffer als beabsichtigt, »ich bin gleich unten.«
Anna verharrte in der Tür.
»Darf ich dich darauf hinweisen«, bemerkte die Schaffnerin und ihr Lächeln wurde um eine Spur breiter, zu breit, um harmlos zu sein, »daß du in diesem Monat schon zweimal die Regel gebrochen hast und über Nacht fortgeblieben bist?«
»Es handelt sich um meine Schwester. Sie ist krank.« Rebecca fühlte Zorn in sich aufsteigen.
»Gewiß, gewiß, ein hochlöblicher Akt der Nächstenliebe und Krankenpflege ist unsere heiligste Pflicht«, bestätigte Anna eifrig nickend und mit einem rasch angenommenen Ausdruck von Unterwürfigkeit. »Es ist nur, daß einige Mitschwestern vom Geist des Neides besessen sind.« Rebecca atmete hörbar ein, Anna fuhr ungerührt fort. »Sie murren unziemlich, da sie selber sich an das Ausgangsverbot halten. Um acht ziehen sie sich zurück ...«
»Ich kenne die Zeiten des Verschlusses«, unterbrach Rebecca sie mit schneidender Stimme, »und da du so sehr um meine Pflichttreue besorgt bist, schlage ich vor, daß du mich diesmal begleitest.«
Anna schlug die Augen nieder und heuchelte milde Bestürzung.
»Wie du weißt, findet ein Fest im Hause deines Schwagers van Geldern statt. Die ganze Stadt spricht davon. Was wird man sagen, wenn eine Begine daran teilnimmt?«
»Davon kann keine Rede sein.« Rebeccas Stimme war jetzt hart und laut. »Falls ich über Nacht im Hause van Gelderns bleiben muß, ist jeder Regel Genüge getan, denn du wirst verhindern, daß ausschweifende Freude in mir aufkommt. Geh nach unten und gib der Magd Bescheid, daß wir kommen.«
Anna fand zu ihrem Lächeln zurück und verschwand.
Rebecca vergrub die
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