Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)
Finger in ihren Handflächen und drückte ihre Fingernägel hinein bis sie schmerzten. Wie nachgiebig und sanft war sie stets mit Anna verfahren. Vergebens. Sie hatte die mittellose Frau, die als bettelnde Begine durch Köln gezogen und sogar der Hurerei verdächtig war, vor drei Jahren barmherzig aufgenommen in den Konvent. Sie hatte die mißmutige Frau gegen alle Anwürfe der Schwestern verteidigt, denn sie glaubte, daß mangelnde Anerkennung die Wurzel allen Übels im Charakter Annas war. Deshalb hatte sie ihr in diesem Jahr sogar die Position der Stellvertreterin zugewiesen. Sie hatte sie ausgezeichnet vor den anderen, um ihre ziellose Gier zu stillen. Alles hatte Rebecca getan, um Annas verirrter Seele Frieden zu schenken und das Gegenteil erreicht. Jede Güte, die sie ihr zuteil werden ließ, schien Annas Mißgunst gegenüber der Gönnerin zu steigern. War es der Einblick in ihre Vermögensverhältnisse, die Anna so aufbrachte? Neidete sie der Magistra die Hausrenten, die Anteile an den Schiffsmühlen, die Barschaften, die sie in ihren Zeiten als Seidenweberin und Kauffrau angehäuft hatte? Warum? Das Vermögen kam den Kranken, den Armen und dem Konvent zugute, war ihm testamentarisch vermacht, nährte sie und ihre Mitschwestern reichlicher, als es deren Tätigkeiten, die Krankenpflege, das Seifensieden, die Hostienbäckerei oder das Kerzendrehen vermocht hätten. Ohne ihr Vermögen wäre der Konvent verloren, denn das einträgliche Weben, die Haubenstickerei, das Garnspinnen hatten die mächtigen Zünfte der Seidenmacherinnen ihren preiswerten Konkurrentinnen im geistlichen Gewand verbieten lassen. Nur einigen kirchlichen Auftraggebern durfte man noch zuarbeiten.
Rebecca betrachtete fragend die Madonna. Deren Lächeln blieb zärtlich. Es tröstete nicht. Die Begine spürte den Schmerz der wirklich Einsamen, die ihr ganzes Wesen abtrennt von der Welt und ihren seltsamen Begierden.
Doch wie es schien, entließ die Welt keinen Menschen aus ihren Klauen, alle waren verstrickt in das Übel – wie die Gestalten ihres gestickten Teppichs. Ein letzter Blick auf den Stickrahmen, dann schob sie ihre gefältelte Haube und den Schleier zurecht. Rebecca öffnete die Tür, das Sausen der Webstühle empfing sie. Mit jedem ihrer Schritte wurde es lauter. Sie stieg die Treppe zu den Gemeinschaftsräumen und der Werkstube hinab.
Seltsam, ihre Stimmung hob sich mit dem anwachsenden Lärm. Rebecca hatte die Lust am Lebendigen nicht in sich abgetötet. Sie empfand es als einen Moment schüchternen Glücks, der sie mit der Welt wieder verband. Munter und wie zur Bestätigung nickte ihr die Küchenmeisterin zu, die einen Sack Gerste über die Fliesen schleifte und sich gleichzeitig mit einem Bissen Brot stärkte. Eine wohlgenährte, fröhliche Person, der man ansah, daß Gerste allein nicht ihre Kost war. »Verzeih, Magistra«, sagte sie kauend und schluckend, »ich höre, du gehst zu van Gelderns Haus?«
»Meine Schwester ist krank«, erwiderte Rebecca schnell und ärgerte sich im selben Moment, daß die Antwort wie eine Rechtfertigung klang. Das war Annas Werk.
Ein Ausdruck aufrichtigen Bedauerns flog über das Gesicht der Köchin, wich dann gutmütigem Eifer. »Eine traurige Sache, aber vielleicht werden ein guter Hasenschlegel in Honig oder ein paar Krammetsvögel in Ingwer sie kurieren. Heute hält man in ihrem Hause ein Festessen, nicht wahr?« Ein sehnsüchtiges Blinken stahl sich in ihre Augen. Schuldbewußt setzte sie hinzu: »Die richtige Diät hat schon so manche Krankheit kuriert. Euer Essen soll eure Medizin sein, heißt es doch schon bei den Griechen, nicht wahr?«
»Ich fürchte«, sagte Rebecca kopfschüttelnd und konnte dabei ein Lächeln kaum unterdrücken, »meine Schwester Katharina gelüstet es nicht nach üppiger Kost. Im Gegenteil.«
Die Köchin seufzte. »Was ein Jammer.« Der Kummer fand keinen rechten Platz in ihrem runden Gesicht. »Liebe Magistra, wäre es nicht eine willkommene Einsparung für unseren Konvent, wenn du etwas von dem wunderbaren Essen, das heute übrigbleibt, für uns erbitten könntest?«
Rebecca hob halb tadelnd, halb belustigt ihre rechte Braue.
»Ich, äh, denke dabei daran«, setzte die Köchin ertappt, aber kaum verlegen fort, »daß wir unsere Tageskost dann den Bettlern von Sankt Alban spenden könnten. Es wäre mir eine heilige Freude, es ihnen selbst auszuteilen.« Sie nickte zufrieden und streichelte zärtlich, fast verzeihend den Gerstensack.
»Ich werde mit der
Weitere Kostenlose Bücher