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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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immerhin ein scharfes Pamphlet – die Defensio adversus Johannis Calvini – gegen den reformierten Prediger und unerbittlichen Dogmatiker verfaßt hatte, der eine eigene universelle Kirche aufbauen und die katholische vernichten wollte.
    »Und Calvin«, kam es bitter von dem jungen Mann, »der erst recht brachte mich von meinen Torheiten ab.«
    Cassander ließ seine Hände sinken und schlurfte müde zu einem Lehnstuhl bei einem Kohlebecken.
    »Du glühst also nicht mehr für diesen begabten Verführer und Zuchtmeister?«
    »Wie könnte ich«, stieß Lazarus verächtlich hervor, »nach dem, was er meinem Vater angetan hat.«
    »Dein Vater war ihm treu ergeben.«
    »Treuer jedenfalls als ich. Als wir noch in Brügge lebten und die Verfolgung der Andersgläubigen allerorten auflebte, schämte er sich für seinen Mangel an Mut, sich zu dem neuen Glauben offen zu bekennen, der so schlicht und wahr erschien, so menschennah. Er betrachtete es als seine größte Sünde, nicht gegen die Verknechtung der Menschen durch eine korrupte Kirche und liederliche Pfaffen zu protestieren, darum ging er endlich nach Genf.«
    »In Calvins Gottesreich«, kam es ohne Spott von dem Gelehrten.
    »Ein Reich, dessen Gott allein Calvin heißt«, erwiderte Lazarus. »Ein finsterer Gott. Jeder Genuß galt ihm als Sünde. Kunst verpönte er, Musik war ihm verhaßt, selbst die Kirchenglocken ließ er schweigen. Eislauf und ähnliche Vergnügungen waren ihm Strafen wert. Es gab keine Festtage, keine Weihnachts- und Osterfeiern. In Genf wird alles kontrolliert, was den Menschen Vergnügen macht, die Rocklängen, Frisuren, ihre Vorratskammern, ob sich darin nicht ein Fitzelchen Pastete versteckt. Die lauschigen Lauben am Rhôneufer wurden nach Liebespaaren durchsucht. Calvins Gott will nicht geliebt und gefeiert, sondern nur gefürchtet werden. Alles Irdische ist – laut Calvin – Schmutz und Nichts. Die Menschen sind eine zuchtlose Rotte von Sündern. Einmal die Woche wurden wir, seine Bürger, von Schnüfflern vernommen, nächtens gab es Visitationen. Widerlichste Spitzel lauerten überall.« Erschöpft hielt Lazarus inne.
    Cassander nickte beistimmend. »Ich sehe, der Glaube an den Humanismus in dir ist nicht verloschen. Das ist viel. Ich bin froh, daß ich auf deine Ausbildung soviel Sorgfalt verwandte, sie war nicht verschwendet.«
    »Ihr irrt, Cassander. Ich bin ein schlechter Schüler. Auch an die Menschheit glaube ich nicht, noch weniger allerdings an die Religionen, weder die katholische noch die reformierte.«
    Cassander schüttelte beinahe mitleidig den Kopf, doch die Freimütigkeit des jungen Flamen schreckte ihn nicht. Er selbst kannte die Schriften heidnischer Philosophen zu Genüge, die eine Menge skandalöser Ansichten über die Natur der Seele, die Nichtexistenz Gottes und die Sinnlosigkeit aller Frömmigkeit enthielten. Er aber hielt es mit Aristoteles, der in allen Fragen des Denkens – Medium tenere beati – den goldenen Mittelweg empfahl.
    »Nur durch die andauernden müßigen Zänkereien haben beide Parteien sich ins Extrem verloren«, sagte Cassander jetzt. »Es fehlen solche, die sich von aller Parteileidenschaft und Erregung frei halten und in ehrlichem, redlichen Sinne lediglich die göttliche Wahrheit suchen, wie Christus sie verkündet. Nur wer das tut, behält die Fähigkeit, an Gott und die Menschen zu glauben, so wie es dein Vater tat. Die Welt des Lichts ist euch näher als eure Hände und Füße es sind, sie ist in euch, heißt es in der Bibel.«
    »Es heißt so vieles in der Bibel.«
    »Du glaubst nicht einmal mehr an die Schrift?«
    »Ich glaube an ihre Vieldeutigkeit. Ich hasse alle Reformierten, die eine abgöttische Verehrung der Bibel propagieren und sich zu deren einzigen Deutern aufschwingen. Die Wahrheit ist so unendlich vielfältig, daß ich davon abgekommen bin, sie zu einem Idol zu machen. Ich bemühe mich nur noch um einige Richtigkeiten ...«
    »Du bist fürwahr bitter geworden, Lazarus, ich erkenne den jungen leidenschaftlichen Mann nicht wieder, der alles für die Besserung der Welt wollte. Das Leben war dir eine Lust, die Menschheit deine Berufung.«
    »Dieser Narr verbrannte mit seinem Vater, Cassander.«
    Die Augen des zarten, alten Mannes verdunkelten sich. »Er ist für eine Wahrheit gestorben, die größer war als Calvin, der selbsternannte Gott. Macht dich das nicht stolz?«
    Lazarus zögerte. »Er ist gestorben, weil er einen vollendeten Narren verteidigte.«
    »Den katholischen Spanier

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