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Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Die Visionen der Seidenweberin (German Edition)

Titel: Die Visionen der Seidenweberin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Wertheim
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vertan.«
    Rebecca nickte ernst.
    Der saure Geruch des Erbrochenen stach Anna in der Nase. Am Boden hockend verfluchte sie ihr Schicksal, aber die Nacht war noch lang.
    5
    E in paar von den niederländischen Studenten, die in Köln so zahlreich waren, verfolgten ihn grölend bis zur Drachenpforte vor dem Domhof. »Spanischer Geck!« riefen sie im Schutz der Dunkelheit und in der Annahme, er könne sie nicht verstehen, »Freudentöter, Leuteschinder, Hurensohn.«
    Als Lazarus den Bogen der Pforte durchschritten hatte, ließen sie von ihm ab. Sie fürchteten die Wachleute der Hacht, des erzbischöflichen Gefängnisses, und kannten eine Schenke, die noch offen war. Der volle Mond wies ihnen den Weg.
    Hartgefrorener Lehm brach knirschend unter dem Tritt von Lazarus’ Stiefeln. Im Schein seiner Fackel überquerte der Mann in der spanischen Uniform den Domhof, warf einen Blick nach oben und bewunderte die Streben des Chors, die sich im sternenbestickten Schwarz des Himmels verloren. Der Bau war ein Meisterwerk von Menschenhand, und nur das nährte seinen Respekt. Er ging weiter, bog um eine Ecke und erreichte eine schmale Klosterpforte. In einer Nische blakte ein trauriges Licht zu Füßen einer Madonnenfigur. Lazarus pochte sacht an das Holztürchen. Er wartete eine Weile und klopfte erneut, diesmal lauter. Schlurfende Schritte waren zu hören, so zögernd, daß ein deutlicher Vorwurf darin mitklang.
    Die Fensterlade im Tor wurde zurückgeschlagen, das verknitterte Gesicht eines Mönches tauchte hinter dem Gitter auf. Flink musterten blaßblaue Augen den nächtlichen Besucher, erkannten die spanische Uniform. Mit unterdrücktem Zorn fragte der Klosterbruder: »Was wollt Ihr?«
    »Cassander erwartet meinen Besuch«, sagte Lazarus knapp.
    »Ihr kommt spät«, murrte der Mönch, »wir haben bereits die Nachtgebete gesprochen.«
    »Ist Cassander denn nicht noch wach?«
    »Der scheint nie zu schlafen, will dem Tod wohl ein Schnippchen schlagen und seine Lebenszeit verdoppeln«, meinte der Klosterbruder, während er die Tür entriegelte und sie langsam öffnete.
    Lazarus antwortete nicht. Durch weißgetünchte Gänge folgte er dem Mönch über einen kleinen Kreuzgang in den Krankentrakt des Klosters St. Maria ad Gradus. Vor einer Zelle am äußersten Ende des Ganges machte der Mönch halt und stieß ohne Umstände eine Tür auf. Der Mann in der Zelle hob ärgerlich seinen grauen Kopf. »Was ...«, hob er an und entdeckte den jungen Mann in spanischer Uniform, der sich am Mönch vorbei in den kleinen Raum drängte.
    »Lazarus!« Der Glattrasierte beugte das Knie und senkte sein Haupt. Der Mönch in der Tür schüttelte den Kopf, seltsamer Spanier, seltsam. Überhaupt empfing dieser auf den Tod kranke Greis und Gelehrte Cassander merkwürdige Besucher. Ja nun, er war Gast des Domdechanten, da hielt man sich besser heraus und lächelte dazu. Der Mönch zog sich gähnend zurück.
    Alles an dem Mann in der Zelle schien grau: sein Gesicht, die Haare, der lange, spitze Bart, sein Gelehrtengewand. Er trat hinter einem Stehpult hervor, auf dem sich ein klösterliches Pergament schnappend zusammenrollte, streckte seine gichtknotigen Hände aus und reichte sie Lazarus. Der ergriff und küßte sie, als seien sie mit dem Ring eines Bischofs geschmückt.
    »Lieber Lazarus, es ist eine Freude, dich zu sehen. Deine Botschaft hat mich entzückt. Wie lange ist es her, daß wir im Hause deines Vaters beisammensaßen? Ein Jüngling warst du damals, heute bist du ein Mann.« Seine Augen glitten wohlgefällig über die hübsche männliche Gestalt des jungen Flamen.
    »Fünfzehn Jahre, verehrter Cassander, und doppelt so alt bin ich heute. Ihr spracht damals von Erasmus, der Freiheit des Geistes, den Gesetzen der Toleranz, der Notwendigkeit, die Religionen miteinander zu versöhnen. Ich sprach vom Umsturz, vom Ende des katholischen Götzendienstes und der papistischen Riten. Ich wollte den trockenen, schnellen Weg, wie die Alchimisten es nennen. Eine reinigende Explosion, um die Menschen zur Freiheit zu führen und zu einem wahren, evangelischen Gott.«
    Cassander lächelte müde. »Ja, du warst ein Hitzkopf und hieltest mich für einen lächerlichen Greis, einen Zauderer und Mann der Vergangenheit.«
    Beinahe beschämt blickte Lazarus zu Boden, ein Ausdruck, den nur wenige an ihm kannten. »Sprecht nicht davon. Die Welt, die ich aus den Angeln heben wollte, hat mich eines Besseren belehrt.«
    »Und Calvin?« kam es ohne Vorwurf von Cassander, der

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